Literatur der Mauerrisse

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Ein audiovisueller Parcours von
Julia Schoch

Ein audiovisueller Parcours von
Marcel Beyer

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Über den Raum „Literatur der Mauerrisse“

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 2015 haben die beiden Autoren Julia Schoch und Marcel Beyer die Tonarchive im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Literarischen Colloquium Berlin durchforstet und ihren jeweils eigenen Blickwinkel auf die „Literatur der Mauerrisse“ in einem audiovisuellen Onlineparcours verarbeitet. Nachzuhören sind dabei einmalige Tonaufnahmen von Veranstaltungen beider Literatureinrichtungen vor und nach 1989 u.a. von Oskar Pastior, Ernst Jandl, Sarah Kirsch, Volker Braun, Wolfgang Hilbig und Elke Erb.

Weitere Informationen

Über die Autoren

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren und in Mecklenburg aufgewachsen, wohnt heute in Potsdam. Sie studierte Germanistik und Romanistik und lebte längere Zeit in Paris, Bukarest und Kaliningrad. Von 2000 bis 2003 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische Literatur an der Universität Potsdam. Seit 2003 ist sie freiberufliche Autorin und Übersetzerin und erhielt zahlreiche Preise und Stipendien. Bei Piper veröffentlichte sie u.a. die Romane „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ (2009) und „Selbstporträt mit Bonaparte“ (2012).

Marcel Beyer, geboren 1965 in Tailfingen/Württemberg, wuchs in Kiel und Neuss auf und lebt heute in Dresden. Er studierte Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Von 1990 bis 1993 arbeitete er als Lektor an der Literaturzeitschrift Konzepte mit; von 1992 bis 1998 veröffentlichte er in der Musikzeitschrift Spex. Marcel Beyer ist Verfasser von Lyrik, Essays und Romanen und wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet; bei Suhrkamp erschienen u.a. die Romane „Flughunde“ (1995), „Kaltenburg“ (2008) und der Gedichtband „Graphit“ (2014).

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Dichterlesen.net ist eine Initiative des Literarischen Colloquiums Berlin und des Deutschen Literaturarchivs Marbach in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Basel.
Das Projekt wurde gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Stimmen / Geister Gesagt ist gesagt, heißt es.Wir lauschen. Geisterstimmen.Zusammen bilden sie ein Archiv vergangener Aufgeregtheiten, sprich unserer Geschichte.Zugleich sind sie ein Museum der Flüchtigkeit.Darin ähneln sie der Liebe. Man erinnert sich.Aber mehr noch als an die Liebe selbst erinnert man sich an ihre Vergänglichkeit.Nüchtern, trotzig, manchmal erschreckt wird es uns bewusst.Wir lauschen den Fetzen des Untergegangenen, bis etwas wiederkehrt.(Julia Schoch) Weiter Literatur & Verrat„Wo sind denn die eingesperrten Schriftsteller?“Übergänge in neue Räume„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“Schreiben lernen am Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig„Diese Schule ist gewiss eine Besonderheit“Entweder / Oder„Das Desaster der interpretierenden Klasse.“Ein großes Thema für die Literatur?„So schnell entsteht ja nun nichts.“Stilles Lied und Megaphon„Das Dunkel, das mich umgibt, kennt keine Grenzen.“Umgeschrieben?Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen, es gibt sie nicht.Die Nacht der Nächte?„Merkwürdig“Missverständnisse, überall„Hab ich was Neues gelernt.“Der Verrat ist vielleicht das Wahrste, was vom Zusammenleben der Menschen bleibt. Diese Aussicht erlaubt es zu warten.Quelle: Berliner Morgenpost,15.3.1987In der Berliner Morgenpost hieß es danach in einer Besprechung der Veranstaltung: „Im Colloquium wurden die Grenzen deutlich“ Quelle: Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR, Edition Deutschland Archiv, 1994.„Dass die „andere Kunstszene“ unter konspirativer Beobachtung stand, war allen bekannt, die sich in ihr engagierten. Als sich nach 1990 herausstellte, dass zwei der aktivsten Insider auch die eifrigsten Verräter gewesen waren, fühlten viele der Freunde sich nicht nur menschlich tief enttäuscht. Die Empörung steigerte sich noch dadurch, dass Sascha Anderson und Rainer Schedlinksi zunächst alles abstritten und sich verleumdet sahen, bis die unbestreitbare Aktenlage sie zu gewundenen Erklärungen und Entschuldigungen nötigte. Anderson war schon 1986 nach West-Berlin übergesiedelt, vermutlich auch deswegen, weil das MfS durch ihn genauer über die Verbindung zu den vielen bereits vorher in den Westen gegangenen oder abgeschobenen Künstlern und die von ihnen aufrechterhaltenen Kontakte mit ihren Freunden in Ost-Berlin informiert werden konnte.“Quelle: IM-Bericht von S. Anderson über Ekkehard Maaß, 30.09.1982Die geräumige Küche in der Wohnung von Ekkehard und Wilfriede Maaß am Prenzlauer Berg war seit den Siebziger Jahren eine Art subkultureller Kultursalon. Hier fanden Konzerte, Lesungen und Liederabende statt. Maaß als Organisator des Ganzen wurde von Anderson jahrelang bespitzelt.Sascha Anderson (12.03.1987)Auf der Tagung gerät Anderson in Streit mit einer Besucherin, bei dem sich die Perfidie einer ganz bestimmten Rhetorik zeigt. AbspielenZur vollständigen Veranstaltung im ArchivHajo Steinert & Sarah Kirsch (19.06.1996)Am 21. Mai 1990 moderiert Sascha Anderson im LCB sogar noch eine Lesung mit Sarah Kirsch. Sechs Jahre später ist sie wieder dort und äußert sich zu dem Verrat. AbspielenZur vollständigen Veranstaltung im ArchivThomas Rosenlöcher (14.07.1999)Weitere drei Jahre später kommt Thomas Rosenlöcher in Marbach dem Thema Spitzel mit Ironie bei.AbspielenZur vollständigen Veranstaltung im ArchivWolfgang Hilbig, Hajo Steinert, Thomas Böhme (26.11.1991) ... Wolfgang Hilbig zum Beispiel war 1978 nach Andersons Raster offenbar noch nicht WIRKSAM geworden. AbspielenZur vollständigen Veranstaltung im ArchivZur vollständigen Veranstaltung im ArchivHajo Steinert, Wolfgang Hilbig (26.11.1991) AbspielenJohannes Jansen (26.11.1991) AbspielenDetlef Opitz (26.11.1991) AbspielenKarl Corino (26.11.1991) AbspielenAls Anderson Anfang der neunziger Jahre als Informeller Mitarbeiter der Stasi enttarnt wurde, reagierten seine Kollegen unterschiedlich.Sascha Anderson (12.03.1987)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAm 12. März 1987 ist Sascha Anderson zu der Veranstaltung „Ich fühle mich in Grenzen wohl – Lyrik und Prosa aus Ost-Berlin“ im LCB eingeladen. Zu diesem Zeitpunkt lebte er seit einem halben Jahr in Westberlin. Auf dem Podium denkt er über die Entwicklungen in der UdSSR und der DDR nach.Abspielen© Susanne Schleyer© Helga Paris© Picture Alliance / Judaica-Sammlung RichterErnst Jandl (16.11.1989)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivWar da was? Ernst Jandl liest am 16. November 1989 aus seinem Gedichtband „Idyllen“Abspielensiehe Marcel Beyer: Ernst Jandl, 6._November_1989Sarah Kirsch (21.05.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivSarah Kirsch liest im Mai 1990 ein Mauergedicht, ihr einziges. AbspielenWar da was?Volker Braun (14.12.1994)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenThomas Rosenlöcher (23.02.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenHanns-Josef Ortheil (25.04.1995)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenHubert Winkels & Angela Krauß (25.04.1995)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenDie Frage aller Fragen... Wo waren SIE in jener Nacht?Die Maueröffnung ruft die Intellektuellen auf den Plan. Die meisten verstehen sich als skeptische Beobachter dessen, was geschieht.Ende November 1989 wurde der Aufruf „Für unser Land“ veröffentlicht. Es gab drei Textentwürfe. Von Dieter Klein, Günter Krusche und Konrad Weiß. In Christa Wolfs Wohnung entstand die Endfassung. Von ihr stammte auch die Entweder-Oder-Gegen-überstellung. Bis zum 19.01.1990 unterschrieben knapp 1,2 Millionen Bürgerinnen und Bürger.© Bundesarchiv, BArch DY 2/1© Bundesarchiv, BArch DY 2/1Volker Braun (02.12.1989)Im Dezember 1989 denkt Volker Braun auf einer Lesung im LCB über die Zukunft des Landes nach. AbspielenVolker Braun (02.12.1989)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenZur vollständigen Veranstaltung im ArchivYaak Karsunke (23.02.1990)AbspielenThomas Rosenlöcher (23.02.1990)AbspielenBernd Wagner (23.02.1990)AbspielenThomas Rosenlöcher (23.02.1990)AbspielenIm Februar 1990 trafen sich Autoren aus Ost und West im LCB, um Texte zum Thema „Deutsche Fragen“ zu lesen. Anschließend schrieb Bruno Preisendörfer über diese Tagung in der Zitty:© Zitty 6/90, S. 70© Zitty 6/90, S. 70Anna Jonas am 28.02.1990 in der taz über die Veranstaltung:© Simon Sturm - „Schienen“© Simon Sturm - „Schienen“Gerulf Pannach (07.02.1986)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivZerrissenheit – eine deutsche Angelegenheit?Im Februar 1986 singt der Liedermacher Gerulf Pannach auf der Tagung „Die Uneinigkeit der Einzelgänger“ im LCB das wohl bekannteste Gedicht von Thomas Brasch. AbspielenBernd Wagner (23.02.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivVier Jahre später hat Bernd Wagner angesichts der Maueröffnung Angst, kein Fremdling mehr zu sein. AbspielenUwe Kolbe (25.02.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivUwe Kolbe erzählt in dem Gedicht „Die Tür geht auf“ von der Schwierigkeit des Übergangs in eine neue Welt. Abspielen© Wolfgang Krolow - Akrobatin in der Fidicinstraße in Berlin, 1988Thomas Rosenlöcher (14.07.1999)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivDie entwaffnende Unschuld des „Westens“ lässt Thomas Rosenlöcher 1999 in Marbach die Wahrheit sagen. AbspielenSarah Kirsch (21.10.1987)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivKeine Bedrohung, nirgends. Sarah Kirsch hingegen wird in der Fremde versöhnlich gestimmt. AbspielenHanns-Josef Ortheil (25.04.1995)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivUnd Hanns-Josef Ortheil freut sich ganz einfach.AbspielenDurs Grünbein (25.02.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAm 25. Februar 1990 findet Durs Grünbein auf der Veranstaltung „Deutsche Fragen“ im LCB, dass ein Ereignis wie der Mauerfall nicht unmittelbar Literarisches nach sich ziehen kann. Deshalb liest er „nur ein Dokument“, den Bericht seiner Verhaftung im Herbst 1989. AbspielenDurs Grünbein (25.02.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivDoch dann widerlegt er sich selbst. Natürlich gibt es längst ein paar Gedichte „zum Ereignis“…AbspielenAngela Krauß (09.03.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAngela Krauß liest am 9. März 1990 im LCB. Für sie liegt die große Befreiung nach dem Herbst 1989 darin, als Autorin endlich von gewissen Dingen schweigen zu dürfen.AbspielenVolker Braun (14.12.1994)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivFünf Jahre später ist er zu einer neuen Demut gelangt. Auf einer gemeinsamen Lesung mit Jens Sparschuh am 14. Dezember 1994 sieht er sich nicht (mehr) als Intellektuellen der Nation. AbspielenVolker Braun (02.12.1989)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivVolker Braun ist ratlos. Auf einer Lesung am 2. Dezember 1989 im LCB lässt sich erahnen, was in diesem Moment seine größte Angst ist: Die Abkehr der Leser. Allerdings verkleidet er seinen Wunsch, das Publikum möge ihm gewogen bleiben, in einen apodiktischen Satz: Die Solidarität der Leserschaft ist der größte Trost für einen Dichter.Abspielensiehe Marcel Beyer: Volker Braun, Dezember 1989Hanns-Josef Ortheil (25.04.1995)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivWas nun, schweigen oder schreiben? Und gibt es sie, die Wendeliteratur, oder gibt es sie nicht? Hanns-Josef Ortheil klärt die Frage auf einer gemeinsamen Lesung mit Angela Krauß am 25. April 1995.AbspielenHubert Witt (28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAuf einer Tagung zum Thema „Literaturförderung in Ost und West“ im Herbst 1990 klärt Hubert Witt die westliche Zuhörerschaft über das „Wundergebilde“ in Leipzig auf. Witt unterrichtete von 1986 bis 1993 am Institut.AbspielenRainer Kirsch (28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivRainer Kirsch auf der Tagung „Literaturförderung in Ost und West“ 1990 im LCB AbspielenFrauke Meyer-Gosau & Sarah Kirsch (19.06.1996)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivSarah Kirsch, befragt von Frauke Meyer-Gosau, bei einer Lesung 1996 im LCB AbspielenGert Neumann (28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivÄhnliche Erfahrungen wie Helga M. Novak macht auch Gert Neumann als Student am Institut. 1969 beantwortet er dort die Frage Was ist schön? falsch. Auf der Tagung „Literaturförderung in Ost und West“ im Herbst 1990 berichtet er rückblickend. AbspielenHubert Winkels & Angela Krauß (25.04.1995)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAndere Zeiten, andere Erinnerungen. 1995 erinnert sich Angela Krauß, befragt von Hubert Winkels, an ihre Zeit am Institut. AbspielenHajo Steinert & Wolfgang Hilbig (26.11.1991)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivUnd manch einer ging GANZ andere Wege. Zum Beispiel Wolfgang Hilbig.Auf einer Lesung im LCB im Herbst 1991 berichtet Hilbig von seinen Anfängen als Schreibender – nicht am Institut.AbspielenKarl Corino (26.11.1991)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivHilbig ist kein Selbstdarsteller. Darum ergreift Karl Corino das Wort. Er erzählt für Hilbig von Hilbigs Suche nach einem Verlag.AbspielenZwei, die ihre Zeit am Institut gemeinsam begannen und später (sehr) getrennte Wege gingen, berichten von ihren Erfahrungen…Sarah und Rainer Kirsch (links und Mitte) © Bundesarchiv Bild 183-C1114-0020-002, Klaus Franke, Berlin, Literaturfestival, 14.11.1964Mitte der sechziger Jahre wird auch die Dichterin Helga M. Novak am Institut aufgenommen. Ihr erster Gedichtband, „Ballade von der reisenden Anna“, war allerdings im Luchterhand-Verlag erschienen. Er macht sie zu einer anerkannten Dichterin und einer zweigeteilten Person: Bürgerin der DDR mit Verlagshaus im Westen. Helga M. Novak ist durchaus guten Willens, aber das kleine Land will sich einfach nicht auf die Höhe der Autorin schwingen. „Frechheit, Unbeherrschtheit und schlechtes Benehmen“, vor allem aber ihr Verhältnis mit Robert Havemann bringen das Fass zum Überlaufen. Als sie 1966 ein Visum für Island beantragt, wird ihr DDR-Pass einbehalten. Zehn Jahre vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns schmeißt der Staat sie raus, allerdings nicht mit den gleichen Folgen. Die Ausbürgerung der Helga M. Novak ist nicht zu einer Zäsur in der Geschichte geworden.(28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivStreitgemurmel auf der Tagung „Literaturförderung in Ost und West“ am 28.09.1990. AbspielenWerner Liersch (28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivWerner Liersch, der Herausgeber der Zeitschrift ndl, zeigt auf der Tagung „Literaturförderung in Ost und West“ im Herbst 1990 am Beispiel der unterschiedlichen Auffassung über die Mülltrennung in Ost und West, wie kompliziert es ist, zu einem gemeinsamen Begriff von Literatur zu kommen.AbspielenKarl Corino (28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAuf derselben Tagung beschwert sich Karl Corino über das fehlende Engagement der DDR-Intellektuellen gegen ihren Staat. AbspielenRainer Kirsch (28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivRainer Kirsch klagt über absurde Forderungen des westdeutschen Feuilletons an DDR-Autoren.AbspielenYaak Kasunke (28.09.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivYaak Kasunke erläutert Rainer Kirsch den BRD-Kulturbetrieb und rät ihm was. AbspielenAngela Krauß (09.03.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAngela Krauß revidiert 1990 das Bild des subventionierten Schriftstellers in der DDR.AbspielenHajo Steinert & Sarah Kirsch (19.06.1996)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAm 19. Juni 1996 lernt Hajo Steinert bei einer Lesung mit Sarah Kirsch im LCB etwas Neues. AbspielenSarah Kirsch (19.06.1996)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivSarah Kirsch erklärt Hajo Steinert die Autoren-Solidarität in der DDR und warum Volker Braun nicht zu ihrem Kreis gehörte. AbspielenEnde der neunziger Jahre, bei einer Lesung im Wilhelmshorster Huchel-Haus, wirkte Sarah Kirsch erschöpft und trotzig. Befragt zu ihrer Haltung gegenüber den ehemaligen Schriftstellerkollegen aus der DDR, sagte sie, sie wolle nicht mehr mit diesen Leuten sprechen, mit den Volker Brauns, den Christa Wolfs. Da rede sie doch lieber mit ihren Meerschweinchen. Punkt. Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivMartin Walser (06.07.1990) Martin Walser liest am 6. Juli in Marbach „Vormittag eines Schriftstellers 1990, 27. März“. AbspielenZur vollständigen Veranstaltung im ArchivHeinz Czechowski (25.02.1990) Heinz Czechowski liest am 25. Februar im LCB den Text „Dresden, dreizehnter Februar“. AbspielenIm Jahr 1990 verfassen zwei deutsche Schriftsteller unabhängig voneinander einen Tagebuch-Bericht, in dem sie über Deutsche Geschichte und die neusten Entwicklungen nachdenken. Die beiden Stimmen könnten nicht unterschiedlicher sein. Der eine würde am liebsten schweigen, der andere hält eine Rede ans Volk. Vielleicht ist es am Ende allein der Idiolekt eines Autors, sein Sprachgestus, der entscheidet, ob man ihm, das heißt seinen Gedanken, folgt oder nicht. Ob man ihn versteht, verstehen will. Unwillkürlich frage ich mich, was sich der Held in J.D. Salingers Roman „Der Fänger im Roggen“ fragt, wenn er ein Buch gelesen hat: Welchen der beiden Autoren würde ich nach dem Hören der beiden Ausschnitte gern anrufen? Bruno Preisendörfer schreibt im Anschluss an die Tagung „Deutsche Fragen“ im Februar 1990:Am 29. März 1990 befasst sich Helmut Böttiger mit Martin Walsers Geschichtsbild in der Stuttgarter Zeitung: Zwei Pressestimmen© DLA Marbach - Martin Walser am 06.07.1990 in Marbach © DLA Marbach - Martin Walser am 06.07.1990 in Marbach Ich glaube, es gibt keine wirkliche Brücke zwischen den Generationen. Es gibt ein bestimmtes Interesse, vielleicht Einfühlung. Manchmal sind es Zufälle, die Ältere und Jüngere zueinander kommen lassen. Doch letztlich bleibt jede Generation mit ihren Erfahrungen, Erlebnissen und deren „Verarbeitung“ allein. Ich stelle mir oft vor, wie die Älteren über die Jüngeren denken: Sie verstehen nichts, sie haben keine Ahnung, nicht die geringste, es ist alles verloren… Und ich weiß nie, ob ich in dieser Vorstellung die Sprechende oder die Angesprochene bin. Christa Wolf (26.02.1992)Am 26. Februar 1992 liest Christa Wolf in Marbach aus ihrem Buch „Was bleibt“.AbspielenZur vollständigen Veranstaltung im Archiv© DLA Marbach - Christa Wolf am 26.02.1992 in Marbach Sprachmelodie und Architektur Der Bau der Berliner Mauer war auf symbolischer Ebene der Bankrott der DDR. Die Intellektuellen des jungen Staates (und das waren damals noch nicht die professionellen Talkshowgäste, sondern zu einem Gutteil die Schriftsteller) hatten annähernd zwölf Jahre ermüdender Aufbaurhetorik bewältigt – nun standen ihnen achtundzwanzig Jahre ermüdender Schutzwallrhetorik bevor.Allein die Tatsache, dass einem Schriftsteller keine Möglichkeit blieb, um die Mauer »herumzukommen« – im Denken, im Schreiben, in der Auseinandersetzung mit Politikern und Kollegen in Ost und West –, glich einer intellektuellen und ästhetischen Geiselhaft.Mit der Abschottung des Landes brach die Zeit der Kassiber an. Man übte sich in der Kunstfertigkeit im Umgang mit Verschlüsselungstechniken, entwickelte ein bis an die Grenze des Paranoiden reichendes Sensorium für Zwischentöne, lernte Hören und Sprechen noch einmal ganz von vorn, auf dass einem kein plötzlicher Stimmenwechsel, wie unscheinbar auch immer, entgehe. Man muss diese Stimmen hören, jenseits des in der Politik vorherrschenden grobrhetorischen Rauschens, um sich ein Bild davon zu machen, wie Sprachmelodie und Architektur zusammenhängen: Hier das Zögern mitten im Satz, die Körnung, die Brüchigkeit, die Klarheit der Stimme, und dort der Mauerriss.(Marcel Beyer) Weiter 23. Dezember 1964: JOHANNES BOBROWSKI„Man kann sich, glaube ich, von der Nationalgeschichte nicht dispensieren“16. November 1989: ERNST JANDL„der westliche gott“23. Februar 1990: ELKE ERB„Diese Stadt war immer schwarz“14. Juli 1989: OSKAR PASTIOR„die Nichtverläßlichkeit von geschlossenen Räumen“2. Dezember 1989: VOLKER BRAUN„Das ist eine Kontextveränderung, um das literarisch auszudrücken“28. September 1990: VOLKER BRAUN„Die Lemminge“November 1979: ERNST JANDL„RESTE him hanflang“23. Februar 1990: THOMAS ROSENLÖCHER„Drei Männer in Betrachtung des Bundeskanzlers“Im Marbacher Nachlassbestand des Dichters Johannes Bobrowski finden sich genau zwei Tonaufnahmen: Der Mitschnitt der Trauerfeier für den mit achtundvierzig Jahren gestorbenen Bobrowski am 7. September 1965 in Berlin-Friedrichshagen (den in einer tief in den Fels der Marbacher Schillerhöhe gegrabenen Abhörkabine zu verfolgen für mich zu den spukhaftesten Erlebnissen der letzten Jahre zählt) und ein von Helmut Baldauf am 27. November 1964 geführtes, am 23. Dezember desselben Jahres im Deutschlandsender ausgestrahltes Interview.Johannes Bobrowski – Ostpreuße, Wehrmachtssoldat, Christ, CDU-Mitglied ---- – spricht mit ruhiger Stimme, wägt seine Worte ab. Man spürt sofort, der zeittypische ideologische Jargon ist ihm fremd. Die Stimme eines Monolithen. Zunächst geht es um die bevorstehende Veröffentlichung der gesammelten Erzählungen Bobrowskis, um seine Poetik, doch dann lenkt Helmut Baldauf das Gespräch unvermutet auf die allerjüngste Vergangenheit, auf eine Reihe von Lesungen und Diskussionen, zu der die Bewohner des ›Studentendorfs‹ Siegmunds Hof in West-Berlin ----- Schriftsteller aus der DDR eingeladen haben. Johannes Bobrowskis Lesung, gemeinsam mit Hanns Cibulka, hat am 13. November stattgefunden, also zwei Wochen vor Aufzeichnung des Interviews, und auch an der Abschlussveranstaltung am 5. Februar 1965, die wegen des großen Publikumsandrangs in die Akademie der Künste am Hanseatenweg verlegt werden muss, wird Bobrowski teilnehmen.Bereits 1967 ist dieses Interview unter dem Titel »Vom Hausrecht des Autors« auch im Druck erschienen, in dem Sammelband »Johannes Bobrowski: Selbstzeugnisse und Beiträge über sein Werk«. Dort allerdings findet sich eine redigierte Fassung, die verständlicherweise auf Eigenheiten der mündlichen Gedankenentwicklung keine Rücksicht nimmt. Hier meine Transkription einer Passage, in der Bobrowski während des Sprechens ins Nachdenken zu geraten scheint, ehe er den Satz zu Ende führt:Johannes Bobrowski: »Ja, es wurde dort von einigen Zuhörern in der Diskussion gefragt, ob das Thema, dem ich mich – also im Wesentlichen – zugewendet habe, das heißt dieses Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachbarvölkern und eben die Frage der deutschen Verschuldungen, ob die noch interessant wäre und überhaupt wichtig. Ein Teil der Zuhörer ist ja nach diesen Ereignissen eigentlich erst aufgewachsen, und sie sind ihnen vielleicht fremd, und vielleicht sind die Probleme darüber im Wesentlichen gelöst oder die Akten geschlossen, wie man will. Ich habe darauf erwidert, dass ich das beschreibe, was ich weiß und was mir nötig erscheint, und da ist es ... und da allerdings befremdet mich manchmal d- ... das hab ich dort gesagt – die Stellungnahme junger Leute, die sich von der Geschichte freisprechen wollen, von der deutschen Geschichte. Man kann sich, glaube ich, von der Nationalgeschichte nicht dispensieren, und da gibt es, wie die Erfahrung zeigt, ja offene Probleme bis heute. Ich habe darauf hingewiesen, dass es in Westdeutschland solche Probleme gibt, ich habe sie genannt, zum Beispiel die Frage der Verjährung der Kriegsverbrechen und ähnliches, und dann hat mir die Versammlung, glaube ich, auch im Wesentlichen zugestimmt.«Was schießt Johannes Bobrowski durch den Kopf, als er für wenige Sekunden aus seiner so überzeugend dahinfließenden Rede ausbricht? Mag sein, er sieht einzelne Gesichter dieser »jungen Leute« vor sich, die ihm »auch im Wesentlichen zugestimmt« haben. Mag sein, vor seinen Augen flackert in diesem Moment ein Zukunftsbild auf, ein Alptraumbild: Dass sich der eine oder andere seiner Zuhörer in der folgenden Phase der deutschen Geschichte, nach dem Fall der Mauer, zum Holocaustleugnerfreundeversteher wandeln wird.Im Marbacher Nachlassbestand des Dichters Johannes Bobrowski finden sich genau zwei Tonaufnahmen: Der Mitschnitt der Trauerfeier für den mit achtundvierzig Jahren gestorbenen Bobrowski am 7. September 1965 in Berlin-Friedrichshagen (den in einer tief in den Fels der Marbacher Schillerhöhe gegrabenen Abhörkabine zu verfolgen für mich zu den spukhaftesten Erlebnissen der letzten Jahre zählt) und ein von Helmut Baldauf am 27. November 1964 geführtes, am 23. Dezember desselben Jahres im Deutschlandsender ausgestrahltes Interview.Johannes Bobrowski – Ostpreuße, Wehrmachtssoldat, Christ, CDU-Mitglied ---- – spricht mit ruhiger Stimme, wägt seine Worte ab. Man spürt sofort, der zeittypische ideologische Jargon ist ihm fremd. Die Stimme eines Monolithen. Zunächst geht es um die bevorstehende Veröffentlichung der gesammelten Erzählungen Bobrowskis, um seine Poetik, doch dann lenkt Helmut Baldauf das Gespräch unvermutet auf die allerjüngste Vergangenheit, auf eine Reihe von Lesungen und Diskussionen, zu der die Bewohner des ›Studentendorfs‹ Siegmunds Hof in West-Berlin ----- Schriftsteller aus der DDR eingeladen haben. Johannes Bobrowskis Lesung, gemeinsam mit Hanns Cibulka, hat am 13. November stattgefunden, also zwei Wochen vor Aufzeichnung des Interviews, und auch an der Abschlussveranstaltung am 5. Februar 1965, die wegen des großen Publikumsandrangs in die Akademie der Künste am Hanseatenweg verlegt werden muss, wird Bobrowski teilnehmen.Bereits 1967 ist dieses Interview unter dem Titel »Vom Hausrecht des Autors« auch im Druck erschienen, in dem Sammelband »Johannes Bobrowski: Selbstzeugnisse und Beiträge über sein Werk«. Dort allerdings findet sich eine redigierte Fassung, die verständlicherweise auf Eigenheiten der mündlichen Gedankenentwicklung keine Rücksicht nimmt. Hier meine Transkription einer Passage, in der Bobrowski während des Sprechens ins Nachdenken zu geraten scheint, ehe er den Satz zu Ende führt:Johannes Bobrowski: »Ja, es wurde dort von einigen Zuhörern in der Diskussion gefragt, ob das Thema, dem ich mich – also im Wesentlichen – zugewendet habe, das heißt dieses Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachbarvölkern und eben die Frage der deutschen Verschuldungen, ob die noch interessant wäre und überhaupt wichtig. Ein Teil der Zuhörer ist ja nach diesen Ereignissen eigentlich erst aufgewachsen, und sie sind ihnen vielleicht fremd, und vielleicht sind die Probleme darüber im Wesentlichen gelöst oder die Akten geschlossen, wie man will. Ich habe darauf erwidert, dass ich das beschreibe, was ich weiß und was mir nötig erscheint, und da ist es ... und da allerdings befremdet mich manchmal d- ... das hab ich dort gesagt – die Stellungnahme junger Leute, die sich von der Geschichte freisprechen wollen, von der deutschen Geschichte. Man kann sich, glaube ich, von der Nationalgeschichte nicht dispensieren, und da gibt es, wie die Erfahrung zeigt, ja offene Probleme bis heute. Ich habe darauf hingewiesen, dass es in Westdeutschland solche Probleme gibt, ich habe sie genannt, zum Beispiel die Frage der Verjährung der Kriegsverbrechen und ähnliches, und dann hat mir die Versammlung, glaube ich, auch im Wesentlichen zugestimmt.«Was schießt Johannes Bobrowski durch den Kopf, als er für wenige Sekunden aus seiner so überzeugend dahinfließenden Rede ausbricht? Mag sein, er sieht einzelne Gesichter dieser »jungen Leute« vor sich, die ihm »auch im Wesentlichen zugestimmt« haben. Mag sein, vor seinen Augen flackert in diesem Moment ein Zukunftsbild auf, ein Alptraumbild: Dass sich der eine oder andere seiner Zuhörer in der folgenden Phase der deutschen Geschichte, nach dem Fall der Mauer, zum Holocaustleugnerfreundeversteher wandeln wird.siehe Thomas Rosenlöcher, 23.02.1990siehe Ernst Jandl November 1979Helmut Baldauf & Johannes Bobrowski (23.12.1964)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielen© Erica Loos, DLA Marbach - Johannes Bobrowski © DLA MarbachHerrschaftsstrukturen bilden Idiotensprache heraus. Kinder wissen es, und unter den deutschsprachigen Dichtern nach 1945 hat niemand es so gut gewusst wie Ernst Jandl. Dass Jandl darüber hinaus ein ausgezeichneter Vortragskünstler war, machte ihn zu einer Autorität in Sachen Sprachidiotie auch für jene, die des Schreibens und Lesens noch nicht mächtig sind.Im November 1979, zehn Jahre vor der Maueröffnung, spricht Ernst Jandl in West-Berlin sein Album »him hanflang war das wort« ein, im ERD-Tonstudio in der Bachstraße, nicht weit entfernt vom Siegmunds Hof. Es ist, nach »Laut und Luise« (1968) und »hosi + anna« (1971) bereits die dritte Jandl-Platte, die im Verlag von Klaus Wagenbach erscheint.Heute liegen die Masterbänder zu Wagenbachs Quartplatten im Literaturarchiv in Marbach, große BASF-Tonbandspulen in Pappschubern, handbeschriftet. Im Mai 2015 stöbere ich mit einer gewissen Nostalgie (es sind die Klänge, mit denen ich aufgewachsen bin) in diesem Tonarchiv fröhlicher Anarchie, einem Archiv auch der feinen akustischen Mauerrisse von Wolf Biermann bis zum Grips Theater – und halte mit einem Mal einen ungehobenen Schatz in Händen: »RESTE him hanflang«, bei der Zusammenstellung des Albums nicht berücksichtigte Gedichte, Varianten, Einzellaute und – unerhört – Ernst Jandl, den die Öffentlichkeit nur als perfekten Rezitator kennt, auf der Suche nach dem richtigen Ton.Gleich zu Anfang liest er sein schon 1953 entstandenes Gedicht »lebensbeschreibung«, den Monolog eines Toten: »ich habe dietrich geheißen.« Gemeint ist Dietrich Burkhard, ein enger Jugendfreund Jandls, der ihn mit dem Jazz in Berührung brachte und 1944 als Soldat ums Leben kam. Ernst Jandl liest »lebensbeschreibung« ein erstes Mal, wird aus dem Kontrollraum offenbar aufgefordert, es ein zweites Mal zu lesen, dann ein drittes Mal. Der Hörer wird Zeuge nicht nur, wie Jandl den Vortragston von Take zu Take justiert, er wohnt einem kleinen Studio-Drama bei: Nach und nach nämlich verliert der Dichter beim Vorlesen die Fassung.Insbesondere die Verse »die behörden denken ans dritte jahrtausend, die behörden denken weit voraus«, einen Kommentar zu Formularen, in denen Geburts- und Sterbedaten einzutragen sind, spricht Jandl von Mal zu Mal mit größerem Abscheu, als fürchtete er, die Idiotensprache werde ihn irgendwann beherrschen. Jene Sprachidiotie, die, gleichgültig unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen, ein durch und durch menschenfeindliches Menschenbild verrät. Irgendwann bricht Ernst Jandl die Aufnahme ab: »Nein, ich kann das nicht. Ich kann das, glaube ich, nicht.«Inzwischen leben wir tatsächlich im dritten Jahrtausend. Die Kinder, die mit Ernst Jandls »him hanflang war das wort« groß geworden sind, gehören längst selbst zur Elterngeneration. Um etwas aus der Zeit zu erfahren, als es zwei deutsche Staaten gab, werden wiederum ihre Kinder irgendwann die Großeltern fragen müssen. Die Behörden aber, da bin ich mir sicher, denken unermüdlich weit voraus und werden in ihren Formularvordrucken bald im vierten Jahrtausend angekommen sein.siehe Johannes Bobrowski, 23. Dezember 1964Ernst Jandl (November 1979)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenOskar Pastior (14.07.1989)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielen© Renate von Mangoldt - Oskar Pastior im LCB Tonstudio, Sommer 1989© Renate von Mangoldt - Oskar Pastior im LCB Tonstudio, Sommer 1989© Renate von Mangoldt - Oskar Pastior im LCB Tonstudio, Sommer 1989© Renate von Mangoldt - Oskar Pastior im LCB Tonstudio, Sommer 1989»Mein erstes Gedicht«, schreibt Oskar Pastior, »bestand aus drei Wörtern und hatte den Vorzug, daß ich es mir ohne Zeitnot, notfalls stundenlang, aufsagen, genauer gesagt zubrummen konnte. Es ging so:Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemachtJalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht ...und so fort. Es veranschaulichte den siebenbürgischen Sommernachmittag eines Kindes im Hinblick auf die Nichtverläßlichkeit von geschlossenen Räumen.«1989 ist West-Berlin ein geschlossener Raum, umgeben von der DDR, die ihrerseits einen geschlossenen Raum darstellt. Dass allerdings geschlossene Räume nicht verlässlich sind, weiß Oskar Pastior seit seiner Kindheit. 1968 floh er aus Rumänien, oder reiste, wie er es selbst lieber sieht, von einem Aufenthalt in Wien nicht nach Bukarest zurück, sondern weiter nach München. Seit zwanzig Jahren lebt er nun in West-Berlin. Aber auch wer nicht über das feine Sensorium eines Oskar Pastior verfügt, spürt im Verlauf des Jahres 1989 immer deutlicher, dass Reiseverbote, Behördenwillkür, Schikanen, Grenzanlagen und militärische Gewalt das Bestehen geschlossener Räume auf Dauer nicht verlässlich garantieren.Im Frühjahr 1989 beginnt Pastior, ein Großvorhaben umzusetzen. Möglich, jemand aus seinem Freundeskreis hat ihn, den großen Vorleser, auf diese Idee gebracht, möglich auch, er selbst findet, es sei an der Zeit, die gedruckten Texte systematisch und umfassend in gesprochener Form zu hinterlegen. Zwischen dem 20. April und dem 17. Juli fährt Oskar Pastior insgesamt sechzehnmal von seiner Wohnung in der Schlüterstraße hinaus an den Wannsee, um im Literarischen Colloquium Berlin sein Werk auf Band zu sprechen, Gedicht für Gedicht, Seite für Seite, Stunde um Stunde.Beim Aufbau dieses akustischen Pastior-Archivs werden die akuten zeitgeschichtlichen Umstände kaum eine Rolle gespielt haben. Dennoch scheint eine merkwürdig flirrende Spannung zu herrschen zwischen den Aufnahmedaten und den tagespolitischen Ereignissen eines Jahres, an dessen Ende die vier Jahrzehnte währende europäische Ordnung unwiderruflich in Auflösung begriffen ist.Am 5. April wird in Polen die lange verbotene Gewerkschaft Solidarnosc wieder zugelassen. Am 20. April ist Oskar Pastior zum ersten Mal zur Tonaufnahme im LCB. Am 2. Mai beginnt Ungarn, seine Grenzanlagen zu Österreich abzubauen, Pastior verbringt den Tag im Studio. Am 7. Mai finden Kommunalwahlen in der DDR statt, am 9. Mai nimmt Pastior Gedichte auf. Am 4. Juni werden in Polen die ersten demokratischen Parlamentswahlen abgehalten, aus denen das Bürgerkomitee als Sieger hervorgeht, am 5. Juni ist Pastior im LCB. Am 12. Juni trifft Michail Gorbatschow zum Staatsbesuch in der BRD ein, am Tag darauf setzt Pastior seine Aufnahmen fort. Am 27. Juni durchtrennen die Außenminister Horn und Mock in der Nähe von Sopron symbolisch den Signalzaun zwischen Ungarn und Österreich, am 29. Juni spricht Pastior Gedichte. Am 1. Juli beginnen in der DDR die großen Ferien, zahlreiche Ungarnurlauber werden sie zur Flucht nach Österreich nutzen.Am 14. Juli dann liest Pastior das frühe Gedicht »Irischer Fluß aus dem 8. Jahrhundert«. Zuerst erschien es 1968 in der österreichischen Literaturzeitschrift »Literatur und Kritik«, eine Spur auf dem Weg Oskar Pastiors von Rumänien in den Westen. Erstmals wieder abgedruckt findet es sich in dem von Klaus Ramm herausgegebenen Sammelband »Jalousien aufgemacht«, betitelt nach Pastiors allererstem Gedicht – der siebenbürgische Kindersommernachmittag und die Nichtverlässlichkeit geschlossener Räume. Als wollte er im Sommer 1989 auskosten, was an Verlässlichkeit möglich scheint: Das ihm vertraute LCB im äußersten Westen der Stadt, die Studiosituation in der akustisch abgeschirmten Aufnahmekabine, sein eigenes Werk, auf Tonband gesprochen von seiner eigenen Stimme.Früher oder später, das muss auch Oskar Pastior klar sein, werden die Umbruchbewegungen in Polen, Ungarn, im Baltikum und in der DDR auch Rumänien erfassen. In absehbarer Zukunft wird sich der geschlossene Raum seiner Ost-Biographie öffnen, und damit wird womöglich bis nach West-Berlin vordringen, was Pastior zurückließ, als er Bukarest den Rücken kehrte: die Securitate, seine Erpressbarkeit als Homosexueller, seine Verpflichtung als Informeller Mitarbeiter.Ein kompletter Satz der Aufnahmen verbleibt im Literarischen Colloquium, ein zweiter im Besitz Oskar Pastiors. Nach seinem Tod im Oktober 2006 gelangen diese Tonbänder mit Pastiors Nachlass ins Literaturarchiv in Marbach. Ein seltener Fall doppelter literaturarchivarischer Verlässlichkeit.Ernst Jandl (16.11.1989)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielen© Renate von Mangoldt - Ernst Jandl© Berliner MorgenpostErnst Jandls Gedicht »der westliche gott« entstand irgendwann zwischen 1982 und 1989, es erschien bereits im August 1989 in dem Band »idyllen«, auch mag es zum Standardprogramm Jandls auf seiner Lesereise im Herbst des Jahres gehören – und dennoch meint man, er habe es, wenn nicht speziell für diesen Abend geschrieben, so doch mit Hintersinn in die Reihe von Gedichten aufgenommen, die er am 16. November 1989 im Literarischen Colloquium vorträgt:der westliche gottgroßer gott wir loben dichherr wir preisen deine stärkevor dir neigt die erde sichund bewundert deine werkegroßer gott wir loben dichdenn mit deinem ersten armherr wir preisen deine stärkehältst du fest an dich uns christenvor dir neigt die erde sichdenn mit deinem zweiten armherr wir preisen deine werkepreßt du uns marxisten an dichgroßer gott wir loben dichund bewundern deine stärkeNiemand lacht. Zumindest fängt das Mikrophon auf dem Podium nach diesem Gedicht keine Regung im Publikum ein, wie es bei anderen Gedichten durchaus geschieht. Ebenso wenig werden die Zuhörer tief betroffen oder gar in stiller Ergriffenheit schweigen. Die am 19. November im Berliner Tagesspiegel veröffentlichte Besprechung der Lesung trägt den Titel »Jandl erntete am Wannsee Wogen der Sympathie« und vermerkt »Augenaufschläge, Gekicher, Stöhnen, Raunen«, »der westliche gott« jedoch wird nicht ausdrücklich erwähnt.Die verhaltene Reaktion mag damit zusammenhängen, dass sich der Ton von Ernst Jandls Gedichten zehn Jahre nach den Aufnahmen für »him hanflang war das wort« gewandelt hat. In den achtziger Jahren rückt, mehr und mehr, ein melancholisches Dichter-Ich in den Mittelpunkt, die offensive Sprachentlarvung weicht einer grimmigen Introspektion. Es versteht sich allerdings von selbst, dass hinter Jandls Christen-Marxisten oder Marxisten-Christen mehr steckt als die in die Form des Herrscherlobs gekleidete Klage eines streng katholisch erzogenen Mitglieds der SPÖ.Vordergründig handelt es sich um einen kleinen blasphemischen Scherz, wenn Jandl in das beliebte, 1771 von Ignaz Franz geschriebene »Großer Gott, wir loben dich« einige neue Verse hineinschmuggelt, so dass in seiner »westlichen« Version Gott die Christen fest an sich hält, die Marxisten aber – Zeichen innigerer Liebe? Ausdruck sanfter Gewalt? – an sich presst. Ernst Jandl ist aber nicht der erste, der sich diesem Lied eingreifend zuwendet: Im Laufe der deutschen Geschichte hat es immer wieder, wohl aufgrund seines Gestus der lustvollen Selbstunterwerfung angesichts einer – höheren – Macht, im Dienst des Nationalkitsches gestanden, sei es durch seine Kontextualisierung, sei es, dass jeweils politisch opportune Zeilen hinzugedichtet wurden, bis hin zu einer Fassung im Evangelischen Feldgesangbuch von 1939, deren letzte Strophe ins »Führerlob« mündet: »Losungswort sei allzugleich: / ›Treu zu Führer, Volk und Reich.‹«So kommentiert das Gedicht an diesem 16. November indirekt auch den ›heiligen Ernst‹, mit dem in Deutschland, gleich unter welchen politischen Voraussetzungen, seit jeher dazu aufgerufen wird, eine Musternation zu formen. – Nichts weiter als Zufall, wie gesagt, eine Woche nach der Maueröffnung, mitten in Berlin. So wie es Zufall ist, dass die Ernst Jandl freundschaftlich verbundene Christa Wolf am selben Abend im Ostteil der Stadt nach einer Lesung aus dem »Sommerstück« mit ihren Zuhörern lange diskutiert, ob und in welcher Form der Sozialismus gerettet und ein nun tatsächlich ›besseres Deutschland‹ namens DDR geschaffen werden könnte.Ernst Jandls Gedicht »der westliche gott« entstand irgendwann zwischen 1982 und 1989, es erschien bereits im August 1989 in dem Band »idyllen«, auch mag es zum Standardprogramm Jandls auf seiner Lesereise im Herbst des Jahres gehören – und dennoch meint man, er habe es, wenn nicht speziell für diesen Abend geschrieben, so doch mit Hintersinn in die Reihe von Gedichten aufgenommen, die er am 16. November 1989 im Literarischen Colloquium vorträgt:der westliche gottgroßer gott wir loben dichherr wir preisen deine stärkevor dir neigt die erde sichund bewundert deine werkegroßer gott wir loben dichdenn mit deinem ersten armherr wir preisen deine stärkehältst du fest an dich uns christenvor dir neigt die erde sichdenn mit deinem zweiten armherr wir preisen deine werkepreßt du uns marxisten an dichgroßer gott wir loben dichund bewundern deine stärkeNiemand lacht. Zumindest fängt das Mikrophon auf dem Podium nach diesem Gedicht keine Regung im Publikum ein, wie es bei anderen Gedichten durchaus geschieht. Ebenso wenig werden die Zuhörer tief betroffen oder gar in stiller Ergriffenheit schweigen. Die am 19. November im Berliner Tagesspiegel veröffentlichte Besprechung der Lesung trägt den Titel »Jandl erntete am Wannsee Wogen der Sympathie« und vermerkt »Augenaufschläge, Gekicher, Stöhnen, Raunen«, »der westliche gott« jedoch wird nicht ausdrücklich erwähnt.Die verhaltene Reaktion mag damit zusammenhängen, dass sich der Ton von Ernst Jandls Gedichten zehn Jahre nach den Aufnahmen für »him hanflang war das wort« gewandelt hat.In den achtziger Jahren rückt, mehr und mehr, ein melancholisches Dichter-Ich in den Mittelpunkt, die offensive Sprachentlarvung weicht einer grimmigen Introspektion. Es versteht sich allerdings von selbst, dass hinter Jandls Christen-Marxisten oder Marxisten-Christen mehr steckt als die in die Form des Herrscherlobs gekleidete Klage eines streng katholisch erzogenen Mitglieds der SPÖ.Vordergründig handelt es sich um einen kleinen blasphemischen Scherz, wenn Jandl in das beliebte, 1771 von Ignaz Franz geschriebene »Großer Gott, wir loben dich« einige neue Verse hineinschmuggelt, so dass in seiner »westlichen« Version Gott die Christen fest an sich hält, die Marxisten aber – Zeichen innigerer Liebe? Ausdruck sanfter Gewalt? – an sich presst. Ernst Jandl ist aber nicht der erste, der sich diesem Lied eingreifend zuwendet: Im Laufe der deutschen Geschichte hat es immer wieder, wohl aufgrund seines Gestus der lustvollen Selbstunterwerfung angesichts einer – höheren – Macht, im Dienst des Nationalkitsches gestanden, sei es durch seine Kontextualisierung, sei es, dass jeweils politisch opportune Zeilen hinzugedichtet wurden, bis hin zu einer Fassung im Evangelischen Feldgesangbuch von 1939, deren letzte Strophe ins »Führerlob« mündet: »Losungswort sei allzugleich: / ›Treu zu Führer, Volk und Reich.‹«So kommentiert das Gedicht an diesem 16. November indirekt auch den ›heiligen Ernst‹, mit dem in Deutschland, gleich unter welchen politischen Voraussetzungen, seit jeher dazu aufgerufen wird, eine Musternation zu formen. – Nichts weiter als Zufall, wie gesagt, eine Woche nach der Maueröffnung, mitten in Berlin. So wie es Zufall ist, dass die Ernst Jandl freundschaftlich verbundene Christa Wolf am selben Abend im Ostteil der Stadt nach einer Lesung aus dem »Sommerstück« mit ihren Zuhörern lange diskutiert, ob und in welcher Form der Sozialismus gerettet und ein nun tatsächlich ›besseres Deutschland‹ namens DDR geschaffen werden könnte.siehe Ernst Jandl, November 1979Volker Braun & Alexander von Bormann (02.12.1989)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenDie Lesung beginnt. Das heißt, zunächst spricht der Moderator: »Ja, meine Damen und Herren, ich habe heute Abend eine Art von Diskussionsleitung, Alexander von Bormann ist mein Name, meinen Nachbarn zur Rechten brauche ich Ihnen nicht vorzustellen, und doch soll ich es tun, ausführlicher sogar, und« – man hört, er wendet sich in diesem Moment seinem Gesprächspartner auf dem Podium zu – »Du wirst Dir also zehn Minuten gefallen lassen müssen.«Zehn Minuten also. Am Ende werden, von einer kurzen, scherzhaften Zwischenbemerkung abgesehen, mehr als dreiundzwanzig Minuten vergehen, ehe Volker Braun zu Gehör kommt. Auf von Bormanns kenntnisreichen, mit ruhiger Stimme entwickelten, langen, bodenlosen Satz wird Braun seinen im Vorjahr geschriebenen »Bodenlosen Satz« vorlesen.Alexander von Bormann fährt mit seiner Anmoderation fort: »Es sind ja, fast zufällig, muss man sagen, nicht zufällig, interessante Tage, in denen jetzt die Volker-Braun-Lesung, gestern die Wulf-Kirsten-Lesung, fällt, ich denke, dass das nicht verabredet war vom Literarischen Colloquium mit der DDR-Staatsführung, dass diese aktuelle Situation gegeben ist.«Schwierig, beim Abhören der Aufnahme zu entscheiden, ob die Zuhörer im Saal des LCB an dieser Stelle lachen, ob sie von Bormanns Pointe aufgreifen, oder ob der Moderator, da er eine kurze Pause lässt, seinen Scherz verrecken hört. Anfang Dezember 1989, so deute ich die kleine Stille, ist nicht die günstigste Zeit, um Witze zu machen, in denen die DDR-Staatsführung eine Rolle spielt. Noch nicht – oder nicht mehr.Von Bormann weiter: »Das ist eine Kontextveränderung, um das literarisch auszudrücken, die natürlich auch für das Verständnis der besprochenen Autoren, also Wulf Kirsten gestern, Volker Braun heute, und alle anderen auch, Bedeutung hat.«Literarisch ausgedrückt wohnen wir als Zuhörer der völligen Zerfaserung bei. Der Zerfaserung des Formats ›literarische Lesung‹, vor dem Hintergrund der akuten Zerfaserung eines Staates. Und darüber hinaus womöglich der Zerfaserung des Selbstbildes, das Schriftsteller wie Volker Braun in der DDR von sich hatten.Alexander von Bormann: »Festzuhalten ist, dass der Anspruch Volker Brauns und sein Selbstverständnis, an dieser Wende, die jetzt doch stattfindet, teilgenommen zu haben, an ihr nicht ganz unschuldig zu sein. Das ist deswegen festzuhalten, weil oftmals, gerade in der jüngeren Lyrikergeneration der DDR, dann der Slogan auftauchte: ›Kein früher Braun‹, so sagte Uwe Kolbe das, und das hieß, einen Abschied von jenen Überzeugungen zu vollziehen, die den frühen Braun geleitet haben.«Die abrupte, alles ergreifende Kontextveränderung. Volker Braun wird, als er endlich seine Lesung des »Bodenlosen Satzes« ankündigt, sagen: »Aber es ist doch ein Text, der zu einer ganz anderen Zeit geschrieben wurde, also im September 1988, woran man sich dunkel erinnert, als eine problematische Zeit. Und ich weiß nicht recht, mit welchem Auge das jetzt also von den Lesern in der DDR aufgenommen wird.«Nach Volker Brauns Lesung folgen noch einmal siebzig Minuten Gespräch auf dem Podium – zwei Stunden und zwanzig Minuten wird dieser Abend im LCB dauern. Ein atemberaubendes Dokument aus einer kurzen Epoche, in der die deutsche Geschichte von Tag zu Tag eine neue Richtung einzuschlagen schien. Man muss es von der ersten bis zur letzten Sekunde hören. ----- Wer aber, wenn nicht die Leser in der DDR, frage ich mich heute halb wehmütig, halb bestürzt, hätte Volker Braun im Dezember 1989 verstehen sollen, da er einen Text vom September 1988 vorlas?Die Lesung beginnt. Das heißt, zunächst spricht der Moderator: »Ja, meine Damen und Herren, ich habe heute Abend eine Art von Diskussionsleitung, Alexander von Bormann ist mein Name, meinen Nachbarn zur Rechten brauche ich Ihnen nicht vorzustellen, und doch soll ich es tun, ausführlicher sogar, und« – man hört, er wendet sich in diesem Moment seinem Gesprächspartner auf dem Podium zu – »Du wirst Dir also zehn Minuten gefallen lassen müssen.«Zehn Minuten also. Am Ende werden, von einer kurzen, scherzhaften Zwischenbemerkung abgesehen, mehr als dreiundzwanzig Minuten vergehen, ehe Volker Braun zu Gehör kommt. Auf von Bormanns kenntnisreichen, mit ruhiger Stimme entwickelten, langen, bodenlosen Satz wird Braun seinen im Vorjahr geschriebenen »Bodenlosen Satz« vorlesen.Alexander von Bormann fährt mit seiner Anmoderation fort: »Es sind ja, fast zufällig, muss man sagen, nicht zufällig, interessante Tage, in denen jetzt die Volker-Braun-Lesung, gestern die Wulf-Kirsten-Lesung, fällt, ich denke, dass das nicht verabredet war vom Literarischen Colloquium mit der DDR-Staatsführung, dass diese aktuelle Situation gegeben ist.«Schwierig, beim Abhören der Aufnahme zu entscheiden, ob die Zuhörer im Saal des LCB an dieser Stelle lachen, ob sie von Bormanns Pointe aufgreifen, oder ob der Moderator, da er eine kurze Pause lässt, seinen Scherz verrecken hört. Anfang Dezember 1989, so deute ich die kleine Stille, ist nicht die günstigste Zeit, um Witze zu machen, in denen die DDR-Staatsführung eine Rolle spielt. Noch nicht – oder nicht mehr.Von Bormann weiter: »Das ist eine Kontextveränderung, um das literarisch auszudrücken, die natürlich auch für das Verständnis der besprochenen Autoren, also Wulf Kirsten gestern, Volker Braun heute, und alle anderen auch, Bedeutung hat.«Literarisch ausgedrückt wohnen wir als Zuhörer der völligen Zerfaserung bei. Der Zerfaserung des Formats ›literarische Lesung‹, vor dem Hintergrund der akuten Zerfaserung eines Staates. Und darüber hinaus womöglich der Zerfaserung des Selbstbildes, das Schriftsteller wie Volker Braun in der DDR von sich hatten.Alexander von Bormann: »Festzuhalten ist, dass der Anspruch Volker Brauns und sein Selbstverständnis, an dieser Wende, die jetzt doch stattfindet, teilgenommen zu haben, an ihr nicht ganz unschuldig zu sein. Das ist deswegen festzuhalten, weil oftmals, gerade in der jüngeren Lyrikergeneration der DDR, dann der Slogan auftauchte: ›Kein früher Braun‹, so sagte Uwe Kolbe das, und das hieß, einen Abschied von jenen Überzeugungen zu vollziehen, die den frühen Braun geleitet haben.«Die abrupte, alles ergreifende Kontextveränderung. Volker Braun wird, als er endlich seine Lesung des »Bodenlosen Satzes« ankündigt, sagen: »Aber es ist doch ein Text, der zu einer ganz anderen Zeit geschrieben wurde, also im September 1988, woran man sich dunkel erinnert, als eine problematische Zeit. Und ich weiß nicht recht, mit welchem Auge das jetzt also von den Lesern in der DDR aufgenommen wird.«Nach Volker Brauns Lesung folgen noch einmal siebzig Minuten Gespräch auf dem Podium – zwei Stunden und zwanzig Minuten wird dieser Abend im LCB dauern. Ein atemberaubendes Dokument aus einer kurzen Epoche, in der die deutsche Geschichte von Tag zu Tag eine neue Richtung einzuschlagen schien. Man muss es von der ersten bis zur letzten Sekunde hören. ----- Wer aber, wenn nicht die Leser in der DDR, frage ich mich heute halb wehmütig, halb bestürzt, hätte Volker Braun im Dezember 1989 verstehen sollen, da er einen Text vom September 1988 vorlas?siehe Julia Schoch: Entweder/Odersiehe Volker Braun, 28. September 1990© Renate von Mangoldt - Volker Braun am 02.12.1989 im LCB© Renate von Mangoldt - Volker Braun am 02.12.1989 im LCBElke Erb (23.02.1990) Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielenWohin reist Elke Erb, wenn sie nach Halle an der Saale fährt, in die schwarze Stadt? Die ersten elf Lebensjahre hat sie in einem Weiler in der Voreifel verbracht, unweit von Bonn. Das Haus ihrer Eltern dort, mit der Adresse Scherbach Nr. 10, galt in der Zeit des Nationalsozialismus als »Kommunistenhaus«. Der Vater von Elke Erb, der Germanist und Historiker Ewald Erb, war nach der sogenannten Machtergreifung aus dem Universitätsdienst entlassen worden und zog es vor, die folgenden Jahre im ländlichen Nirgendwo zu verbringen, wo die drei Töchter Elke, Gisela und Ute geboren wurden. Nach dem Ende des Nationalsozialismus ging Ewald Erb nach Halle, 1949 kam seine Familie nach.Zu den Mitschülern von Elke Erb in den Franckeschen Stiftungen gehört ein junger Mann namens Hans Rolf Rippert. Er wird den umgekehrten Weg gehen, von Ostdeutschland nach Westdeutschland, und dort unter dem Namen Ivan Rebroff als sympathischer, vorrevolutionärer Standardrusse zu einem unverzichtbaren Programmpunkt in Fernsehshows à la »Ein Kessel Buntes« werden, wo er – bis zum Mauerfall allwöchentlich, so meine dunkle Erinnerung – mit Filzstiefeln und Bärenfellmütze den Kasatschok tanzen und dazu »Kalinka« singen wird.Auch Elke Erbs Schwester Ute wird Halle den Rücken kehren, in den Westen gehen – 1957 ist sie vom einen auf den anderen Tag verschwunden, ohne die Eltern und die Schwestern vorher in ihre Pläne eingeweiht zu haben. 1960 erscheint ihre Schilderung der Jahre in der schwarzen Stadt Halle unter dem Titel »Die Kette an deinem Hals – Aufzeichnungen eines zornigen jungen Mädchens aus Mitteldeutschland«.Elke Erb wird Halle erst 1966 hinter sich lassen, mit ihrem Umzug nach Berlin. In ihrem Werk tauchen die frühen Jahre in Halle immer wieder auf, mal schattenhaft, mal in Form jäher Erinnerungsbilder, wie etwa in dem Gedicht »Aber habe wohl nicht geweint«, das in der Nacht vom 6. Dezember 2013 entstand und in den Band »Sonnenklar« aufgenommen wurde. Hier überprüft Elke Erb ihre Erinnerung an den fernen Nachmittag, als sie sich vorgenommen hatte, den Text der Becherschen Nationalhymne auswendig zu lernen, daraufhin, ob sie die steif-hoffnungsfreudigen Verse von »Auferstanden aus Ruinen« unter Tränen memorierte oder nicht.© Renate von Mangoldt - Schriftstellertreffen Deutsche Fragen im LCB, 23.02.1990© Werner Schönfeld - „Halle“Thomas Rosenlöcher (23.02.1990)Zur vollständigen Veranstaltung im ArchivAbspielen»Von diesem Tag an hört die DDR auf zu existieren.« Ein Satz ohne Illusionen, ein Satz ohne Umkehr. Thomas Rosenlöcher schreibt ihn, nachdem er am 19. Dezember 1989 Zeuge der Rede Helmut Kohls ------ vor der Dresdner Frauenkirchenruine geworden ist.Unter den zahllosen Mitschriften aus der Zeit, als die DDR erodierte, ragt Thomas Rosenlöchers Dresdener Tagebuch »Die verkauften Pflastersteine« heraus, weil es sich auch nach fünfundzwanzig Jahren noch mit Gewinn lesen lässt. Und weil es eine Stimmung einfängt, die, man will es zunächst nicht glauben, gegenwärtig ist.»Nicht allzu viele Deutschlandfahnen, denke ich, aber dann sehe ich immer mehr«, notiert er zur Montagsdemonstration in Dresden am 4. Dezember. »Die täglichen Unglücks- botschaften haben sich verdichtet zu einem grenzenlos jubelnden Haß.« Und: »Auf dem Platz schärfste Reden.« Ich überprüfe noch einmal das Datum des Tagebucheintrags, tatsächlich schreibt Rosenlöcher diese Sätze am 6. Dezember 1989. Nicht etwa Ende 2014 oder Anfang 2015, als Pegidisten und Nazis die Stadt jeden Montag im Klammergriff halten. Jemand fordert die »Wiedereinführung der Todesstrafe. Das gibt den größten Beifall des ganzen Abends.« Ehe Thomas Rosenlöcher die Demonstration angewidert verlässt, notiert er noch: »Sobald von Deutschland die Rede ist, gehen die Fahnen hoch. Weniger das, sondern wie sie Deutschland rufen.«Wenn aber im Dezember 2014 auf dem Dresdner Theaterplatz derselbe Hass, dieselbe Selbstgefälligkeit, derselbe aggressive Nationalismus und dieselbe Dummheit herrschen wie im Dezember 1989, heißt dies doch nichts anderes, als dass man, was das dort versammelte Pack betrifft, den ganzen ›Unsinn‹ der deutschen Wiedervereinigung erst gar nicht hätte anzetteln müssen. Und Helmut Kohl hätte am 19. Dezember 1989 getrost einen ruhigen Abend zu Hause verbringen können.»Von diesem Tag an hört die DDR auf zu existieren.« Ein Satz ohne Illusionen, ein Satz ohne Umkehr. Thomas Rosenlöcher schreibt ihn, nachdem er am 19. Dezember 1989 Zeuge der Rede Helmut Kohls ------ vor der Dresdner Frauenkirchenruine geworden ist.Unter den zahllosen Mitschriften aus der Zeit, als die DDR erodierte, ragt Thomas Rosenlöchers Dresdener Tagebuch »Die verkauften Pflastersteine« heraus, weil es sich auch nach fünfundzwanzig Jahren noch mit Gewinn lesen lässt. Und weil es eine Stimmung einfängt, die, man will es zunächst nicht glauben, gegenwärtig ist.»Nicht allzu viele Deutschlandfahnen, denke ich, aber dann sehe ich immer mehr«, notiert er zur Montagsdemonstration in Dresden am 4. Dezember. »Die täglichen Unglücks- botschaften haben sich verdichtet zu einem grenzenlos jubelnden Haß.« Und: »Auf dem Platz schärfste Reden.« Ich überprüfe noch einmal das Datum des Tagebucheintrags, tatsächlich schreibt Rosenlöcher diese Sätze am 6. Dezember 1989. Nicht etwa Ende 2014 oder Anfang 2015, als Pegidisten und Nazis die Stadt jeden Montag im Klammergriff halten. Jemand fordert die »Wiedereinführung der Todesstrafe. Das gibt den größten Beifall des ganzen Abends.« Ehe Thomas Rosenlöcher die Demonstration angewidert verlässt, notiert er noch: »Sobald von Deutschland die Rede ist, gehen die Fahnen hoch. Weniger das, sondern wie sie Deutschland rufen.«Wenn aber im Dezember 2014 auf dem Dresdner Theaterplatz derselbe Hass, dieselbe Selbstgefälligkeit, derselbe aggressive Nationalismus und dieselbe Dummheit herrschen wie im Dezember 1989, heißt dies doch nichts anderes, als dass man, was das dort versammelte Pack betrifft, den ganzen ›Unsinn‹ der deutschen Wiedervereinigung erst gar nicht hätte anzetteln müssen. Und Helmut Kohl hätte am 19. Dezember 1989 getrost einen ruhigen Abend zu Hause verbringen können.siehe Volker Braun, 28. September 1990siehe Johannes Bobrowski, 23. Dezember 1964siehe Julia Schoch: Entweder/Oder© Renate Mangoldt - Thomas Rosenlöcher© picture-alliance / Sven Simon - Helmut Kohl in Dresden, 19.12.1989Volker Braun (28.09.1990) AbspielenZur vollständigen Veranstaltung im ArchivKürzer als am 2. Dezember 1989 -----, nämlich ungefähr halb so lange, liest Volker Braun am 28. September 1990 auf der Schillerhöhe in Marbach.Kürzer, um nahezu zwei Stunden kürzer, fällt auch der Mitschnitt aus – seinerzeit wurde bei Veranstaltungen im Literaturarchiv weder die Anmoderation noch das sich an eine Lesung anschließende Gespräch aufgezeichnet.Kürzer sind die von Braun vorgetragenen Texte, auch wenn einiges Material aus demselben Arbeitszusammenhang stammt wie »Bodenloser Satz«: Vorarbeiten, Skizzen zu den nicht ausgeführten, nicht gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen Volker Brauns, die der »Bodenlose Satz« hätte abschließen sollen.Kürzer werden die Aussagen: »Es muss ein Ende haben.«Kürzer die Fragen: »Was haben sie mit uns gemacht?«Kürzer die Zukunft: »Aber nun mal eine andere Frage: Was machen wir?«Kürzer als am 2. Dezember 1989 wird die Deutsche Demokratische Republik an diesem 28. September 1990, da Volker Braun als Gast eines Symposiums zu Franz Kafka in Marbach liest, in Zukunft bestehen. Noch vier Tage, dann wird sie Geschichte sein.Kürzer als am 2. Dezember 1989 -----, nämlich ungefähr halb so lange, liest Volker Braun am 28. September 1990 auf der Schillerhöhe in Marbach.Kürzer, um nahezu zwei Stunden kürzer, fällt auch der Mitschnitt aus – seinerzeit wurde bei Veranstaltungen im Literaturarchiv weder die Anmoderation noch das sich an eine Lesung anschließende Gespräch aufgezeichnet.Kürzer sind die von Braun vorgetragenen Texte, auch wenn einiges Material aus demselben Arbeitszusammenhang stammt wie »Bodenloser Satz«: Vorarbeiten, Skizzen zu den nicht ausgeführten, nicht gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen Volker Brauns, die der »Bodenlose Satz« hätte abschließen sollen.Kürzer werden die Aussagen: »Es muss ein Ende haben.«Kürzer die Fragen: »Was haben sie mit uns gemacht?«Kürzer die Zukunft: »Aber nun mal eine andere Frage: Was machen wir?«Kürzer als am 2. Dezember 1989 wird die Deutsche Demokratische Republik an diesem 28. September 1990, da Volker Braun als Gast eines Symposiums zu Franz Kafka in Marbach liest, in Zukunft bestehen. Noch vier Tage, dann wird sie Geschichte sein.siehe Volker Braun, 2. Dezember 1989© DLA Marbach -Volker Braun am 28.09.1990 in Marbach© DLA Marbach - Volker Braun am 28.09.1990 in Marbach