Gibt es Begehren ohne gleichzeitig auch Geschlecht aufzurufen und herzustellen? Gibt es ein Begehren, das sich nicht in einer bestärkenden oder in einer widerständigen Form immer wieder auf Zweigeschlechtlichkeit bezieht? Ist Begehren natürlich, angeboren, eine nicht wirklich oder nur sehr schwierig körperlich kontrollierbare Re_Aktion, die das eigene Sein nachhaltig bestimmt – und dadurch auch zu Diskriminierungen führen kann? Ist Sexualität die Erfüllung von Begehren, welches Ausdruck eigener Authentizität sein kann? Ist queer ein körperlich ausgedrücktes oder erwünschtes Begehren, welches sich Bahn verschafft in einer Gesellschaft, in der Begehren und der sexuelle Ausdruck von Begehren eng geführt wird?
In der Regel gibt es eine scheinbar nur wenig herausforderbare Dreierkonstellation von Begehren, Sexualität und Geschlecht, die sich alle gegenseitig bedingen, aufeinander aufbauen und sich so gegenseitig verstetigen, naturalisieren. In Bezug auf Geschlecht herrscht dabei eine Zweigeschlechternorm ganz stark vor. Mit der wird in einigen Texten gespielt, soziale Zuschreibungen klarer Grenzziehungen werden herausgefordert, ‚weibliches‘ und ‚männliches‘ Verhalten, Einlesungen und Auftritte werden gemischt und verwirrt, die äußeren Grenzen dieser Aufweichung und Ausweitung von Normen bleiben jedoch erhalten: Weiblichkeit und Männlichkeit. Dies durchzieht einen Großteil der queeren Literatur dieses Hörraums.
In dem vorliegenden Hörstück wird diese thematische Dreierkonstellation insbesondere in Bezug auf Sozialisation verhandelt. Sozialisation – das Aufwachsen in Strukturen und Gefügen, die häufig zunächst mit Unbehagen belegt sind, was nur schwer wortbar ist (und wozu es Literatur als vorsichtiger und irgendwann auch empowernder Annäherung bedarf) – ist ein Kernthema vieler queerer Literatur dieses Hörraums. Ältere queere Literatur zeichnet sich für mich viel dadurch aus, dass genau das Queer-Sein zum Thema gemacht wird – dieses wird als unkonventionell, umkämpft, außergewöhnlich, negativ bewertet, gegen Rollen und Klischees verstoßend dargestellt, die Literatur hat an sich dadurch etwas Kämpferisches. Queer zu leben bedeutet hier: nicht heteronormativ zu begehren und dies durch Sexualität zu leben. Dies wird häufig von der Herkunftsfamilie, häufig den Eltern, in Frage gestellt, problematisiert, bestraft, verboten. Sehr viele Bücher mit queeren Coming-Out-Geschichten kreisen um eine solche Befreiung aus der Herkunftsfamilie, die eng mit der sexuellen ‚Befreiung‘ einhergeht. Bei beiden ist die Frage, ob nicht häufig genau diese Muster dann noch mal wiederholt werden in dem eigenen Leben, nur mit anderen Rollenbesetzungen. So auch diese Szene aus der Lesung mit Antje Rávic Strubel, in der es um eine Erinnerung an die Kontrolle der Mutter in Bezug auf Sexualität geht.
Wann gibt es Coming Outs in der Literatur? Von wem, womit sind sie verbunden? Sind Coming outs auch immer 'Going Aways'?
Wege aus einer schweren Kindheit
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Zur Hörstation30.01.1999, Ort, Lesung „Lorem ipsum lara est“
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