HILDE DOMIN, HANNAH ARENDT

BRIEFWECHSEL 1960 – 1963

Madrid, 20. Januar 1960
Dr. Hilde Palm (Hilde Domin), Ruiz de Alarcón 27 (7 III)
Sehr verehrte Hanna Arendt,

Zu meiner Bestürzung sehe ich beim Abtragen des Papierbergs, dass ich versäumt habe, das an Sie im Dezember abgesandte Gedichtbändchen mit einem Begleitbrief zu versehen. Verzeihen Sie bitte sehr, wir waren auf der alljährlichen Wohnungssuche, es ging alles drunter und drüber. Aus der Widmung haben Sie aber gewiss auch so schon verstanden, warum ich es Ihnen schicke. Obwohl ich eigentlich hoffe, dass Sie es am meisten aus den Gedichten verstanden haben. Die gemeinsame Anhänglichkeit an Jaspers, die in Ihrem Leben ja einen viel sichtbareren Niederschlag gefunden hat als in dem meinen, ist nur das Spezifischste innerhalb des Gemeinsamen. Ich war sehr beeindruckt von Ihrer Rede in der Paulskirche, wollte Sie unbedingt kennen lernen. Aber es klappte zeitlich nicht, obwohl Rossmann – vielleicht hat er Ihnen von uns erzählt – es gerne vermittelt hätte. Schon damals nahm ich mir vor, Ihnen meine Gedichte zu schicken, sowie sie erst gedruckt sein würden. In meinem, wie ich hoffe, bis zum Herbst vorliegenden Prosaband sind Sie in der Hauptgeschichte übrigens zitiert (hs. ergänzt: „nicht namentlich, natürlich“): „‘Auf dem Atlantic‘, sagte sie, ‚bau ich mein Haus. Beide Kontinente sind unmöglich‘“. Dabei fliegt sie gewiss, statt mit dem Frachtschiff zu fahren, damit sie etwas hat, von Ihrem Ozean…“ etc. etc. So oder so ähnlich, ich zitiere es aus dem Gedächtnis. Das zweite Paradies heißt die Geschichte, Heimat und Leibe auf dem Probierstein des Todes. Sie werden es sehen, falls Sie das Meine überhaupt mögen. – Es ist schlimm, wie dieses „zweite Paradies“, das in sich so prekäre, nun schon deutlich zu zittern beginnt. Falls Ihnen etwas einfällt, ich bin so sehr für Frontmachen. Es sind Minoritäten, die unsere und die feindliche. Wie könnten wir der indifferenten, nur von der Angst um das materielle Wohlergehen affektierbaren Masse zeigen, dass wir genau so viele sind und dass keinerlei Notwendigkeit besteht, auf jenen Wagen aufzusteigen, dass es nicht DER Wagen ist??? Wenn wir nichts tun, könnte er es leicht wieder werden. Ich bin überzeugt, dass die Menschen anrufbar sind. Man kann es ihnen schwer machen, den Kopf wegzudrehen. Sie sind keine Helden, sie sind lieber gut als schlecht, solange es keine allzu grosse Mühe kostet, solange es nicht mit zu grossen Risiken verbunden ist. Noch steht das Verantwortungsgefühl nicht unter prohibitiven Strafen. WAS könnten wir tun, um es zu mobilisieren, wir die wir eine Stimme haben? Mit sehr herzlichen Grüßen und in der Hoffnung, Sie einmal zu treffen, irgendwo in der Freiwilligkeit, Ihre Hilde Domin