New York City, 28. Januar 1960
370 Riverside Drive, New York 25
Liebe Hilde Domin –

Darf ich Sie so anreden, ohne alle Fisematenten? Gerade als ich Ihnen schreiben wollte, kam Ihr Brief. Ich wollte Ihnen sagen, eine wie außerordentlich große Freude Sie mir gemacht haben. Die Gedichte sind sehr schön, die einzig wirklich schönen und wahren Emigrationsgedichte, die ich kenne. Haben Sie vielen, vielen Dank, dass Sie an mich gedacht haben. Nun möchte ich natürlich noch viel wissen – wann Sie bei Jaspers in Heidelberg waren und warum wir uns eigentlich nicht kennen. Rossmann hat mir gar nichts erzählt, oder ich habe es vergessen. Es war ja da in Frankfurt so ein Tumult. Ich freue mich schon auf den Prosaband, zitierter- oder unzitierterweise. Aber was man tun kann, damit nicht alles wieder so wird weiss ich auch nicht. Es sieht überall so sehr wacklig aus. Und wir sind ein bisschen verwöhnt von der Atempause in den fünfziger [Jahren]. Und werden ja auch nicht jünger. Aber Sie werden es vielleicht und sind vielleicht auch gar nicht verwöhnt. Die Dichter haben es ja auch besser – abgesehen davon, dass sie es schwerer haben. Fall Sie gerne eines meiner Bücher haben mögen, müssen Sie es sagen. Ich mag niemanden belasten, möchte aber andererseits doch auch mich bedanken (nicht aber revanchieren). Voilà. Wie ist es eigentlich in Madrid zu leben? Ich kenn es kaum und kann es mir gar nicht vorstellen.

Herzlichst
Ihre
Hannah Arendt