„Flughunde“ und Gedichte

22. Januar 1998
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Lesung: Marcel Beyer

Weiterführende Informationen

Im Jahr 1940 setzt Marcel Beyers hochgelobter Roman Flughunde ein: Der Akustiker und Stimmenforscher Hermann Karnau träumt davon, ein Tonarchiv sämtlicher möglicher menschlicher Stimmerscheinungen anzulegen. Ihm gehört die eine Erzählstimme des Romans, die andere gehört Helga, der ältesten der Goebbels-Kinder. Die erste Episode, die Marcel Beyer vorliest, entwickelt die Beziehung zwischen dem eigenbrötlerischen Akustiker und der Tochter des Propagandaministers.

Es geht um die Formbarkeit der Stimme, um deren Reinheit, um den Eingriff in ihren Klangkörper, ihre 'Physiognomie' und um die Verletzungen, die Karnau bei seiner Recherche den Trägern anderer Stimmen zufügt. Oder ist das Aufzeichnen schon ein Teil der Verwundung, z. B. wenn Karnau mit dem neu entwickelten Magnettonbandsystem die Laute verwundeter, auf dem Schlachtfeld zurückgebliebener Soldaten aufnimmt? Ins Innere des Menschen soll dauerhaft und unwiderruflich eingegriffen werden und der Weg dorthin führt nach Karnaus Überlegungen über "die Stimme, die eine Verbindung von Innen nach Außen darstellt". Nicht die Sprache ist das Entscheidende, sondern die Stimme, sagt der Protagonist, der selbst einen Sprachfehler hat, auf einem Kongress im Dresdner Hygienemuseum.

Karnau und seine Aufnahmegräte horchen, zeichnen auf - selbst beim letzten Atemzug der Goebbels-Kinder 1945 im Führerbunker, in den einzufinden er den Befehl erhalten hat.

Am Ende der Lesung begegnen wir Karnau, wie er 1992 an seinem Küchentisch noch einmal in die Tonaufzeichnungen aus dem Bunker hineinhört.

 

Im Anschluss liest Marcel Beyer Gedichte aus seinem Band Falsches Futter, dessen Entstehung sich mit der des Romans überschnitten hat. Die Motive der Gedichte und des Romans ähneln sich, auch wenn das beobachtende Ich der Gedichte, wie Beyer betont, in der "Jetzt-Zeit" angesiedelt ist und dort "Stimmen von früher hört und Spuren jener Zeit sieht". Sinnesorgane und Aufzeichnungsmedien legen sich in den Gedichten übereinander. Gekennzeichnet sind sie von einer hohen Aufmerksamkeit fürs sprachliche Detail, für "Sprachgift", eingeführt beispielsweise durch die Präsenz des Dichters Josef Weinheber. Topographisch sind Wien und Dresden die Bezugspunkte der hier gelesenen Gedichte Blondes GedichtAus der Wiener ZeitDämmerstreifenDunkle AugenDas künstliche Haar; Retina, Nachkriegsmodell und Das kommende Blau.

Personen auf dem Podium