Kafka. Buchpremiere

21. November 2012
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Vortrag: Saul Friedländer
Moderation: Ulrich Raulff

Programmtext

Als die Eltern von Saul Friedländer deportiert wurden, warfen sie noch einen letzten Brief an den Sohn aus dem Zug. Sein Buch über Kafka ist auch ein Buch über sie: „Mein Vater studierte wie Franz an der Karlsuniversität, sogar dasselbe Fach, Jura, und wurde ebenfalls Angestellter einer Versicherungsgesellschaft. Meine Mutter hieß Elli wie eine von Kafkas Schwestern, derer drei in Auschwitz umgekommen sind, wie meine Eltern.“

Weiterführende Informationen

Eine gewisse Indifferenz gegenüber dem Jüdischen sei für den jungen Erwachsenen Franz Kafka noch bestimmend gewesen. Den Wendepunkt für seine Beziehung zum Judentum und zur jüdischen Identität sieht Saul Friedländer in dessen berühmt gewordenem Besuch des Lemberger jiddischen Theaters in Prag 1911. Kafka habe deren "effortless authenticity" beeindruckt und genau in jener sei die Distanz und Ambiguität markiert, die der Prager Autor gegenüber seinem Judentum zum Ausdruck brachte.
Anhand einer Vielzahl von Beispielen geht Friedländer Kafkas psychischen und intellektuellen Anstrengungen nach, für sich selbst eine bestimmbare Position in der Gemengelage von Antisemitismus, jüdischer Identität und dem gerade in Kafkas Prager Kreis aufkommenden Zionismus zu finden. Ob es nun das Erlernen des Hebräischen sei oder aber die Bestimmungsversuche des eigenen Schreibens, seine Sicht auf Ost- und Westjudentum und schließlich das Verarbeiten jüdischer Motive in seinem Werk – am nächsten käme, so Friedländer, Walter Benjamin den komplexen Kafka'schen Bewegungen im Feld der jüdischen Identität, wenn er von der Unzugänglichkeit der Tradition ausgehe, auf die Kafka lausche. „Pondering about the trickling-down of tradition, is the only possible answer“, schließt Saul Friedländer – das Verebben der Tradition habe bei Kafka so zu neuen Symbolen geführt, zu Symbolen freilich, denen die Wahrheit bestenfalls unzugänglich bleibt oder gar gänzlich inexistent ist.

Das anschließende Gespräch dreht sich zunächst um Kafkas Verhältnis zum Zionismus, sein Lernen des Hebräischen und die von Kafka so empfundene Authentizität des Ostjudentums, ehe Saul Friedländer Fragen aus dem Publikum beantwortet.

Personen auf dem Podium