Literarischer Club

05. Dezember 1995
Literarisches Colloquium Berlin

Gesprächsteilnehmer: Sibylle Cramer, Martin Lüdke, Beate Pinkerneil und Gustav Seibt

Weiterführende Information

Die „33 Augenblicke des Glücks“ werden von Martin Lüdke eingangs als eines der bemerkenswertesten Debüts der letzten Jahre gewertet. Der Literaturkritiker beschreibt überdies die Form des Buches als eine Sammlung von Skizzen, Anekdoten und Geschichten, die auf die gesellschaftlichen Umbrüche des postsowjetischen Russlands reagieren. Gustav Seibt ist da etwas skeptischer und erklärt hinsichtlich des Titels: „Das Glück sehe ich nicht“. Und auch Sibylle Cramer hat Einwände, die u. a. lauten, dass für sie die „historische Projektion“ nicht deutlich werde. Damit bezieht sich Cramer auf den russischen Handlungshintergrund des Buches und die Fixierung der ersten Hälfte der 90er Jahre als fiktionalen Zeitraum.
Petra Morsbachs Roman „Plötzlich ist es Abend“ spielt ebenfalls in Russland und greift dabei auf einen „epochalen Zeitraum“ zurück - auf die Jahre von 1926 bis 1993, so umreißt Pinkerneil Handlung und Form des Buches. Sie verweist überdies noch auf den prominenten Fürsprecher des Romans, H. M. Enzensberger, der die Begabung Morsbachs pries. Damit hat sich das gutgemeinte Vokabular auch erschöpft. „Ich habe so den Verdacht“, so beginnt Lüdke seine Kritik, „dass dicke Bücher auch Aggressionen produzieren.“ Er sieht ein Problem darin, dass die deutsche Autorin ihren Text in einem kulturellen Raum ansiedelt, der ihr letztendlich nicht vertraut sein könnte. Ferner kritisiert er den Publikationszeitpunkt, denn die expliziten Beschreibungen des sowjetischen Alltags, die "Plötzlich ist es Abend" prägen, hätten vor etwa fünf Jahren - so behauptet Lüdke und erntet allgemeine Zustimmung - großes Interesse geweckt - jetzt jedoch nicht mehr.
Burkhard Spinnens Roman „Langer Samstag“ wird für sein beeindruckendes Geschick bezüglich der Beschreibung von Gegenständen und Beziehungen gelobt.
Hans Joachim Schädlichs Erzählungen werden als Schilderungen von Endzuständen des Sozialen begriffen - und lösen eine Debatte aus, in der es um das Spirituelle im Finalen, aber auch die schockierende Fäkaliensprache als Darstellungsmethode geht. Diese „Prosaetüde“, so Seibt erinnere in seiner seriellen Dosierung an Stücke von Beckett.

Programmtext

Vier Neuerscheinungen im Urteil der Literaturkritik: Petra Morsbach – Plötzlich ist es Abend (Eichborn Verlag). Hans Joachim Schädlich – Mal hören was noch kommt. Jetzt, wo alles zu spät is (Rowohlt Verlag). Ingo Schulze – 33 Augenblicke des Glücks (Berlin Verlag). Burkhard Spinnen – Langer Samstag (Schöffling & Co.) Die Diskussionsteilnehmer: Martin Lüdke (Frankfurt/M.), Mathias Schreiber (Der Spiegel, Hamburg), Gustav Seibt (F.A.Z.) und die Gesprächsleiterin Beate Pinkerneil (ZDF, Mainz).

Anmerkung: Statt Mathias Schreiber nahm Sibylle Cramer an dieser Sendung des Literarischen Clubs teil.

Personen auf dem Podium