Studio LCB mit Durs Grünbein

16. November 2007
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Durs Grünbein
Moderation: Maike Albath
Gäste: Norbert Miller, Arno Widmann

Programmtext

Metamorphosen stehen im Mittelpunkt des neuen Gedichtbandes "Strophen für übermorgen" von Durs Grünbein. Es geht um Schnittstellen, prekäre Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Den Auftakt bilden Reminiszenzen an die DDR mit ihrer "Landschaft im Bleisatz, Graudruck ringsum/ Federt spät erst wie Tundra, gefrorener Boden zurück", deren graue Leere die dichterischen Anfänge Grünbeins durchdrang und etwas anderes in ihm heranwachsen ließ, "das/ wie ein Seepferdchen sprang". Es folgen Porträts der Großeltern und Gedichte über Paris, Turin und Midtown. In der Mitte der sieben Abteilungen des Gedichtbandes steht eine Serie über das Schichtengebilde Berlin: "Transit Berlin". Grünbein, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und eine der markantesten Stimmen im deutschsprachigen Raum, erprobt auch in seinem neuen Gedichtband die Verschmelzung klassischer lyrischer Ausdrucksweisen mit einem alltagssprachlichen Gestus. Norbert Miller und Arno Widmann diskutieren mit Durs Grünbein über seine Arbeit und die Widerstandsfähigkeit lyrischer Formen.

Weiterführende Information

Charakter und Charme dieser Studio-LCB-Sendung gehen von der Faszination der 'öffentlichen Figur' Durs Grünbein aus. Maike Albaths Fragenkatalog steht deshalb im Dienste der Entschlüsselung einer Person des medialen Diskurses. Wie hat der 'DDR-Bürger' Grünbein die Wendezeit erlebt? Was beschäftigt den Schriftsteller augenblicklich? Welcher familiäre und gesellschaftliche Hintergrund wirkt auf sein Schaffen ein? Und wie füllt man im frühen 21. Jahrhundert die Rolle des Nationaldichters aus?
Ohnehin geht es um die Gestalt des Dichters heute. Der Dichter ist Teil des mythologischen Ensembles der letzten 250 Jahre. Er ist als Künstlergestalt  ein Prototyp der Romantik und gleichzeitig der unheilbare Insasse einer geschlossenen Anstalt. Ergo: Wie kann man sich eine solche Figur in unseren Zeiten vorstellen? Arno Widmann erinnert sich an Grünbein kurz nach dem Mauerfall als außergewöhnlich neugierigen Zeitgenossen mit starkem Hang zur Präzision ("Ich hatte nicht erwartet, dass er so genau ist"). Und mehrmals ist der Feuilleton-Leiter der Frankfurter Rundschau voll des Lobes gegenüber der Verskunst Grünbeins und zitiert einmal einen Vers, der lautet: "Oxidiert. Der Delphin schnappt nach Luft", den er dann mit dem begeisterten Kommentar versieht, das solle erstmal einer nachmachen.
Der Autor ist über solche Interpretationen erfreut - und ist auch sonst auskunftsfreudig. Über den plötzlichen Zusammenbruch des Sozialismus' berichtet er, dass er die Begegnung mit dem Westen als "unvorbereitet" empfunden habe. Die BRD beschreibt er als "nachbarliche Kultur". Grünbein betont die "völlig andere Farbigkeit" um 1990 herum, in der man "vollkommen überfordert" gewesen sei.
Interessant an dieser Sendung ist ebenfalls, wie der Autor Facetten seines Weltbildes wiedergibt. Hier zwei Beispiele:
Grünbein über das Altern. Er zitiert Goethe ("Es ist der Geist, der früh altert und das Alter verjüngt"). Schließlich erläutert er: "Das heißt: In dem Moment, wo ich mich entscheide oder besser versuche, geistiges Wesen zu sein, überspringe ich diese biologischen Widersprüche. Ich kann zu allen Zeiten immer versuchen, der zu sein, der ich interessehalber bin - unabhängig vom Alter."
Grünbein über die Sprache und das Dichten. Maike Albath fragt ihn, ob ihm das Dichten nicht zu leicht falle. Grünbein vergleicht seine Arbeit mit der eines Musikers. Der sähe ein Klavier und fange sofort an zu klimpern, so der Schriftsteller. Weiter führt er aus: "Sprache als Gegebenheit, gegen die ich mich auch übrigens jeden Tag wehren muss. Wie wird öffentlich gesprochen? Was sagt der Gesprächspartner? Was steht in den Zeitungen?" Sprache sei eben nicht abzustellen. "Man müsste sozusagen einen Zustand herbeiführen, wo das Gehirn auf einen Ruhestand hinunter fährt und keinerlei Sprache mehr verarbeiten muss."

Personen auf dem Podium