Studio LCB mit Ingo Schulze

11. März 1998
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Ingo Schulze
Moderation: Hubert Winkels
Gesprächspartner: Katja Lange-Müller, Helmut Böttiger

Weiterführende Information

Anstelle von Paul Ingendaay (wie im Programm angekündigt) ist Helmut Böttiger zu Gast in der Sendung.

Der sozialgeschichtliche Prozess des gesellschaftlichen Umbruchs direkt nach der Wiedervereinigung und die "kühle" und "ausgeklügelte" Darstellung (so der Kritiker Böttiger) des ostdeutschen Milieus in Schulzes Roman "Simple Stories" beschäftigen die Teilnehmer dieser Studio-LCB-Aufnahme stark. Vor allem die Genauigkeit des Autors, wie er eine bestimmte Atmosphäre einfängt, die nur in den ersten Jahren direkt nach dem Mauerfall entstehen konnte, ringt Katja Lange-Müller und Helmut Böttiger Bewunderung ab. Die Schriftstellerin Lange-Müller erklärt hierzu, sie habe bei der Lektüre nicht herausfinden können, wie Schulze seine Erzählstruktur "hergestellt" hätte. Böttiger lobt, dass es keine narzisstisch geprägte Erzählerstimme gebe, sondern einen multiperspektivisch gebrochenen Blick auf einen sozialen Mikrokosmos, in der neue und alte Ordnungsgesetze sich verwirrend ineinander verschränken würden.
An dieser Debatte, die den letzten Teil Aufnahme prägt (im ersten geht es um den Werdegang des Autors), lässt sich schließlich ein Aspekt des Diskurses um zeitgenössische, deutsche Literatur in den 90er Jahren gut ablesen. Die literarische Ästhetik, für die sich beispielsweise Lange-Müller und Böttiger interessieren (und die in der Literaturkritik mehrheitlich gefragt war), orientiert sich nämlich am  sogenannten 'realistischen' Erzählen - und meint damit die differenzierte Wiedergabe gesellschaftlicher Zustände. Ingo Schulzes Roman "Simple Stories"erfüllt einerseits diese Erwartung, übertrifft sie aber auch.

 

Programmtext

Mit den Erzählungen des Bandes "33 Augenblicke des Glücks" gelang dem Berliner Autor ein fulminantes Debüt. Die Geschichten aus dem chaotischen Alltag St. Petersburgs wurden von der Kritik und den Lesern gleichermaßen begeistert aufgenommen. Schließlich gelingt es selten, dass Fabulierlust, genaue Beobachtung und stilistische Artistik zusammenfinden - und dies auch noch auf der Folie unzähliger Bezüge zur großen russischen Literaturtradition. Sein neues Buch "Simple Storys" schildert den Alltag von Menschen in der ostthüringischen Kleinstadt Altenburg, ein architektonisches Kleinod am Rande eines Kohleabbaugebiets. Schon der ungewöhnliche Titel weist auf Ingo Schulzes Vorliebe für neuere amerikanische Kurzgeschichten-Autoren hin, die das "einfache Leben" zum Gegenstand haben, wie Raymond Carver und Richard Ford. "Literatur bedeutet für mich, die Welt in Wassertropfen zu sehen", sagt Ingo Schulze. Im Kleinen, an den Rändern und in den Details werden so auch die große Geschichte, werden Politik und Mentalitätswandel der letzten Jahre sichtbar gemacht. Gesprächspartner sind die Autorin Katja Lange-Müller und der Literaturkritiker Paul Ingendaay.

Personen auf dem Podium