Studio LCB mit Karl Heinz Bohrer

13. Februar 2017
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Karl Heinz Bohrer
Im Gespräch: Mara Delius, Jürgen Kaube
Moderation: Katharina Teutsch

Programmtext

Karl Heinz Bohrers intellektuelle Biografie scheint aus heutiger Sicht so märchenhaft, dass sein „Abenteuer mit der Phantasie“ für Kenner der deutschen Nachkriegsverhältnisse Pflichtlektüre ist. Jetzt nimmt der ehemalige London-Korrespondent der FAZ seine Leser und Weggefährten mit in die Vergangenheit und lässt sie darin aufleben: Bohrer führt uns in die Literaturredaktion der FAZ, die er seit 1968 leitete, bis er 1974 – nicht ganz freiwillig – an Marcel Reich-Ranicki abgeben musste. Es folgte eine Professur für Literaturwissenschaft in Bielefeld sowie Ausflüge an ausländische Universitäten, von wo aus Bohrer die linksliberale Kultur der Bundesrepublik immer wieder wie eine Störantenne aus dem Off traktierte. Die Herausgeberschaft des „Merkur“ machte ihn in den achtziger Jahren schließlich zur intellektuellen Kultfigur in Deutschland. Dann stieg Bohrer um und schrieb Prosa. Bereits in seinem Erinnerungsbuch „Granatsplitter“ gewährte er Einblicke ins Private: die prägenden Momente einer Kindheit, der Skandal, den Krieg als Ereignis, also ästhetisch wahrzunehmen. Es regnete dort nicht einfach Granatsplitter vom Himmel, sondern „farbige Sterne“. Mit Karl Heinz Bohrer diskutieren über die Existenzformen des Intellektuellen, über das Selbstdenken und über die ideenhistorische Landschaft der Bundesrepublik der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube und die Literaturkritikerin Mara Delius (Die Welt).

Weiterführende Information

Zu Beginn der Veranstaltung wird über das Genre des neuen Buches gesprochen - hat es die Bezeichnung "Autobiographie" nicht doch verdient? Es wird jedenfalls festgestellt, dass die üblichen "bohrerschen Themen" - die Phantasie, die Ästhetik, der Schrecken - auch den neuen Band beherrschen. Die Diskussion wendet sich schnell den intellektuellen und literarischen Debatten der Nachkriegszeit zu. Bohrer spricht über den an die Idee der sozialen Relevanz geknüpften Literaturbegriff der 1960er Jahre, der vom "Bitterfelder Weg" so verschieden nicht gewesen sei. Auch die politische Radikalität der Nachkriegsintellektuellen wird thematisiert.
Auch im Anschluss an die erste Lesung dreht sich die Diskussion um die politischen Fragen der Bundesrepublik. Es wird über Ulrike Meinhoff und über Habermas' Frage nach Bohrers politischen Forderungen gesprochen. Bohrer verwehrt sich gegen die politische Überformung der Ästhetik, will die beiden aber auch nicht gegeneinander ausspielen. Die Politik könne sich von der Französischen Revolution einiges abschauen. Jürgen Kaubes Einschätzung, Bohrer habe sich von evolutionären Entwicklungen, von "Allmählichkeit", immer "genervt" gefühlt, stimmt der Gast des Abends jedenfalls zu. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zu der von Bohrer beklagten "Stillosigkeit" der alten und neuen Bundesrepublik. Den "Reinheitskult" und "Gutseinspathos" des Nationalsozialismus findet Bohrer auch im bürgerlichen Weltbild der Gegenwart wieder, das von Schuld besessen sei, ohne Scham zu kennen.
Auf Bohrers zweite Lesung aus "Jetzt" folgt zunächst ein Gespräch über seine Einstellung zum Metaphysischen und zur Religion. Zum Abschluss geht es dann um die Frage, ob in Bohrers Ästhetizismus, Exotismus, Elitarismus nicht auch ein "reaktionäres Moment" (Teutsch) enthalten sei.

Personen auf dem Podium