Literatur der Mauerrisse

08. Oktober 2015
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Gespräch mit Julia Schoch und Marcel Beyer
Moderation: Jan Bürger und Florian Höllerer
Präsentation: Nadja Grabsch

Programmtext

Am 8. Oktober zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit wird das Online-Portal "Dichter lesen" mit literarischen Veranstaltungen und neuen digitalen Projekträumen freigeschaltet. Den ersten dieser Räume gestalten Marcel Beyer (1965 im schwäbischen Tailfingen geboren) und Julia Schoch (1974 im brandenburgischen Bad Saarow zur Welt gekommen).

Weiterführende Informationen

Nachdem am Abend zuvor unser Portal und sein erster Themenraum Literatur der Mauerrisse bereits im Literarischen Colloquium Berlin vorgestellt worden war, präsentierten Julia Schoch und Marcel Beyer ihre Arbeit nun in Marbach.
Zunächst aber eröffnet Nadja Grabsch den Abend, indem sie in die wesentlichen Funktionen von Dichterlesen.net einführt und die Konzeption des digitalen Tonarchivs wie auch der kuratierten Themenräume erläutert.

Nach einer kurzen Vorstellung der Autorin präsentiert Julia Schoch ihren audiovisuellen Parcours: "Wir lauschen. Geisterstimmen. Zusammen bilden sie ein Archiv vergangener Aufgeregtheiten, sprich unserer Geschichte. [...] Wir lauschen den Fetzen des Untergegangenen, bis etwas wiederkehrt", heißt es in ihrem Einführungstext. Eine der großen "Aufgeregtheiten" ist sicherlich die Affäre um Sascha Anderson, der Julia Schoch eine Station ihres Parcours gewidmet hat und die sie ausführlich vorstellt.
"Das Entstehen der kleinen Risse nachzuvollziehen oder hörbar zu machen, war eigentlich der Reiz und die Aufgabe", fasst Marcel Beyer seinen Ansatz zusammen. Dementsprechend weit zurück geht er in seinem Parcours. Aus dem Jahr 1964 stammt die Johannes Bobrowski gewidmete Station. In einem Radiointerview verhaspelt sich Bobrowski und Marcel Beyer betont, wie hier, nur über die Akustik vermittelt, eine Verunsicherung der Position zwischen Ost und West erfahrbar werde: "Hier das Zögern mitten im Satz, die Körnung, die Brüchigkeit, die Klarheit der Stimme, und dort der Mauerriss."

Im Gespräch der beiden Moderatoren mit Julia Schoch und Marcel Beyer gehen letztere noch einmal auf weitere Hörstationen ein: Julia Schoch widmet sich einer Marbacher Rede Martin Walsers, die ein emphatisches Bekenntnis zur Deutschen Einheit darstellt und einer Lesung von Heinz Czechowski, leiser und abwägender im Ton. Den Gegensatz sieht sie im unterschiedlichen sprachlichen Gestus der beiden Schriftsteller: Walser halte quasi eine Rede ans Volk, während Czechowski fast schon still versuche, sich der Veränderung poetisch zu nähern. Marcel Beyer liest den Prolog zu seinem Raum und geht anschließend auf die Tonaufnahme Oskar Pastiors ein, der just während der Zeit des gesamteuropäischen Umbruchs im LCB sein Werk auf Band spricht. Ein akustischer Schutzraum, den Pastior 1989 am Wannsee aufsucht?

Mit der Dokumentation der Marbacher Veranstaltung schließt sich ein Kreis: Die für die Räume verwendeten und auf Dichterlesen.net bereitgestellten Tondokumente wurden von den Kuratoren in eine Ordnung gebracht, über die wiederum an zwei Abenden geredet wurde; dieses Gespräch findet sich nun als ein weiteres Tondokument unter den hier ausgewählten und präsentierten Audioaufnahmen wieder, gesellt sich diesen also als medialer Nachbar hinzu.

Personen auf dem Podium