Studio LCB mit Hans Joachim Schädlich

19. April 2010
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Hans Joachim Schädlich
Gesprächspartner: Hans Christoph Buch, Richard Wagner
Moderation: Maike Albath

Weiterführende Informationen

Bei dieser Aufnahme sollte man sehr aufmerksam sein. Zunächst bekommt das Gespräch über Schädlichs Kindheit einen privat-intimen Charakter und verdeckt, worum es eigentlich in seinem neuen Roman "Kokoschkins Reise" und in dieser Sendung geht. Nichts Geringeres als die kurz- wie langfristigen Folgen der Oktoberrevolution 1917 sind das Thema. Richard Wagner, der den Totalitarismus als Deutsch-Rumäne unter Ceausescu sehr gut kennen gelernt hat (er emigrierte 1987 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Herta Müller in die BRD), behauptet: "Die Oktoberrevolution ist die größte Erfindung, die die Kommunisten jemals gemacht haben. Das Ganze war letztendlich ein Putsch... Das Problem war, Russland war etwas Nicht-Transparentes."
Die Sendung, die eher ein gemächliches Tempo zu Beginn hatte, gewinnt durch dieses Thema immer mehr Fahrt. Hans Christoph Buch erinnert sich an den Besuch des russischen Literaturwissenschaftlers Wiktor Schlowski. 1971 war der "führende Theoretiker des russischen Formalismus" in West-Berlin gewesen und hatte die Studenten vor "kleinen roten Büchern gewarnt" (und damit war nicht nur die Mao-Bibel gemeint, sondern auch die Schriften Lenins). Zur Mauer hatte Schlowski gesagt: "Sie haben ja eine unangenehme Wand in Berlin, die würde ich gerne sehen." Der Literaturtheoretiker war 1930 gezwungen seine Lehren als "wissenschaftliche Fehler" zu bezeichnen. 1971 erklärte der 1893 geborene Schlowski: "Ich glaube nicht, dass ich mein Leben wie einen Fehler gelebt habe."
Der Titel "Kokoschkins Reise" verweist nämlich - was nicht gleich ersichtlich wird - direkt auf die Geschehnisse  der Oktoberrevolution. Kokoschkin war Minister unter Lwow und Kerenskis gewesen, die 1917 nach dem Sturz des Zaren die Regierung übernommen hatten. Nach den Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung im November, in denen die Bolschewisten lediglich 25 % der Stimmen erhielten, löste Lenin die Versammlung im Januar mit Waffengewalt auf. Kokoschkin wurde verhaftet und ermordet. Schädlichs Roman stellt den Sohn von Kokoschkin in den Mittelpunkt, der aufgrund der gewaltsamen Ereignisse in St. Petersburg zur Emigration gezwungen ist. Diesen Sohn hat es nie gegeben - er ist eine Erfindung von Schädlich. Richard Wagner bezeichnet diesen 'Trick' als "genial".

Programmtext

1935 in Reichenbach geboren, lagert sich in Hans Joachim Schädlichs Lebensweg die deutsch-deutsche Geschichte ab: Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte arbeitete der Schriftsteller als Linguist an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften und verfasste erste Prosastücke, die er vergeblich bei Zeitschriften einreichte. Er schreibe gut, lautete die Begründung für die Ablehnung, sei aber zu dunkel und verneinend - man empfahl ihm einen "neuen Ansatz". Als er 1976 gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann protestierte, verlor er seinen Posten; im Jahr darauf kam im Rowohlt Verlag sein Debüt "Versuchte Nähe" heraus und erregte großes Aufsehen. Mit sprachlicher Strenge und einer parabelhaften Konzentration entwarf Schädlich Bilder der ostdeutschen Seelenlage, wie man sie so noch nicht gelesen hatte. Noch im Winter desselben Jahres genehmigte man ihm die Ausreise. Seit seinem Prosaband von 1977 betreibt Hans Joachim Schädlich eine unbeirrbare Bestandsaufnahme, manchmal sprachspielerisch verfremdend, manchmal nüchtern und sachlich. Historische Verwerfungen geraten ebenso in den Blick wie die typisch deutschen Eigenarten eines obrigkeitstreuen Polizeispitzels in "Tallhover" (1988) oder die bundesrepublikanische Karriere des Nazi-Germanisten Schwerte in "Anders" (2003). Sein jüngster Held, ein über neunzigjähriger Emeritus der Biologie namens Fjodor Kokoschkin, ist per Schiff unterwegs nach New York und durchquert gleichzeitig seine bewegte Vergangenheit, die ihn von Odessa bis nach Berlin führte. Hans Joachim Schädlich liest aus "Kokoschkins Reise" (Rowohlt Verlag) und diskutiert mit den Autoren Hans Christoph Buch und Richard Wagner, ob sich historische Stoffe und das eigene Leben literarisch bändigen lassen.

Personen auf dem Podium