Studio LCB mit Norbert Gstrein

16. Juni 2010
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Norbert Gstrein
Moderation: Hubert Winkels
Gesprächspartner: Kristina Maidt-Zinke, Rainer Moritz

Programmtext

Das "Studio LCB" versteht sich durchaus als Werkstattgespräch mit einem Autor, auch bevor das Buch das Licht der großen Öffentlichkeit erreicht hat. Das ist im Falle von Norbert Gstrein und seinem neuen Roman "Die ganze Wahrheit" der Fall, der im August 2010 erscheinen wird. Er hat sich der heiklen Aufgabe angenommen, den Literaturbetrieb selbst als sozialem und emotionalem Kosmos zu behandeln. Der Literaturbetrieb ist eine überschaubare Welt, erst recht gilt das für die Szene in der österreichischen Hauptstadt Wien, wo "Die ganze Wahrheit?" spielt, bzw. auf raffinierte Weise umspielt wird. Jeder spricht über jeden, jeder schreibt über jeden. Einen Verleger wie Heinrich Glück kann es also nur in Wien geben: Erst spät gründete er seinen Verlag, und über vier experimentierfreudige, dürftige Lyrikerinnen ist er nicht weit hinausgekommen. Dann aber lernt er eine junge Frau kennen: Glück lässt sich scheiden, um mit der exzentrischen Kathrin zusammenzuleben, die mehr und mehr von ihm Besitz ergreift. Aber kann man den anderen zum persönlichen Eigentum machen, bis über den Tod hinaus? Kann man sich anmaßen, die ganze Wahrheit über einen Menschen zu wissen? In einem ironischen, brillanten Vexierspiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion erzählt Norbert Gstrein zwei Wahrheiten über einen einzigen Menschen. Mit Norbert Gstrein diskutieren zwei exzellente Kenner des literarischen Lebens: Der Leiter des Hamburger Literaturhauses Rainer Moritz und die Literaturkritikerin Kristina Maidt-Zinke aus München.

Weiterführende Information

Schwerpunkt der Sendung ist der Literaturbetrieb als Thema eines Romans. So nutzt man einen Großteil der Diskussionszeit, festzustellen, inwieweit es Überschneidungen zu reellen Personen und den Figuren in "Die ganze Wahrheit" gibt. Aber die Teilnehmer betonen auch immer wieder, dass sie als Kenner der Szene zwangsläufig Gstreins Buch als Parallelwelt oder Kommentar zu der jüngeren Geschichte des Verlages Suhrkamp begreifen. Das kann eine durchaus verzerrte Lesart sein, weswegen Rainer Moritz auch einmal erklärt: "Ich bin ganz unglücklich, dass diese Namen gefallen sind, weil ich glaube, wie machen es dem Buch schwerer, als man es ihm machen müsste - wenn wir gleich Suhrkamp rufen und von real existierenden Verlegerinnen sprechen... Ich glaube, wir dürfen von uns nicht als repräsentative Leser ausgehen."
Gstrein ist sich jedoch offenbar bewusst, dass die Unterwanderung des Eindeutigen und das Spiel mit offensichtlichen Realien in seinen Romanen Schwierigkeiten mit sich bringen kann. So berichtet er, dass ein eher missgünstiges Porträt einer Schriftstellerin im Roman "Das Handwerk des Tötens" (2002) bei einigen Kritikern sehr schlecht weggekommen sei (es war übrigens Iris Radisch in der "Zeit", die u.a. auch wegen dieses Porträts Gstreins Roman nicht gerade überschwänglich gelobt hatte).
Kurioserweise geht es bei einer autobiografischen Angabe, was er mal studiert habe, zu Beginn der Sendung gerade um das Zweifelhafte im Eindeutigen und Klaren. "Ich habe Mathematik studiert mit dem allergrößten Ehrgeiz", so Gstrein einmal,  "der allergrößte Mathematiker zu werden. Und die Literatur ist ein Ausweg gewesen.... Die naive Vorstellung von der Mathematik ist, die Dinge sind dort eindeutig. Die sind in der höheren Mathematik gar nicht so eindeutig, wie sie in der Schulmathematik erscheinen mögen."

Personen auf dem Podium