Das Glück der offenen Grenzen. Zum literarischen und politischen Zusammenspiel von Ost und West

07. April 2016
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Olga Grjasnowa, Katja Petrowskaja, Ilma Rakusa und Michail Ryklin im Gespräch
Moderation: Jan Bürger

Programmtext

Die deutsche Gegenwartsliteratur wäre sehr viel ärmer ohne jene Stimmen mit biografischen Wurzeln in Osteuropa: Olga Grjasnowa, Katja Petrowskaja, Ilma Rakusa und Michail Ryklin im Gespräch.

Weiterführende Informationen

Nach dem Ende der Sowjetunion hat sich nicht nur die politische, sondern auch die literarische Landkarte Europas verändert. Der Rückschluss aber, erst mit der Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West habe eine Verzahnung der unterschiedlichen Sprachräume und Denkschulen stattgefunden, wird von den Podiumsgästen korrigiert. Zwar betonen Ilma Rakusa und Katja Petrowskaja wie wichtig es ist, die Sprache als Transfersystem verschiedener Sprachen zu begreifen. Nur ist solche Tradition viel älter. Puschkin und Tolstoi werden erwähnt, die stark vom Französischen geprägt waren; Katja Petrowskaja betont, dass man Ossip Mandelstams Gedichte im Russischen in ihren Assoziationsketten nur nachvollziehen könne, wenn man die klangliche Verwandtschaft einzelner Ausdrücke mit deutschen Wörtern berücksichtige. Das Gespräch umkreist dabei immer wieder die sprach- und literaturpolitische Situation in der Sowjetunion. Olga Grjasnowa und Katja Petrowskaja teilen die Erfahrung, in Ländern aufgewachsen zu sein, deren Bevölkerung nicht Russisch sprach und dennoch mit diesem als offizieller und Parteisprache konfrontiert war. Michail Ryklin betont, dass gerade die Schriftsteller der russischen Avantgarde in den 30er Jahren mehr und mehr als Übersetzer tätig wurden, was zwar zu einer hohen Produktion herausragender Übersetzungen geführt habe, Dichterinnen wie Achmatowa oder Zwetajewa und Dichter wie Pasternak, allesamt generalverdächtigt vom stalinistischen System, allerdings auch davon abgehalten hätte, selbstständig zu schreiben. Anders als die Literatur spreche die Philosophie, so Ryklin, eine internationale Sprache. Die Schwierigkeit, Übersetzungen der zeitgenössischen westlichen Philosophie in der Sowjetunion zu erhalten, habe einen quasi dazu gezwungen, Französisch, Deutsch oder Englisch zu lernen, um so die Werke Derridas, Sartres oder Heideggers lesen zu können.

Die Öffnung der Grenzen, so lässt sich vielleicht als kleines Resümee des Gesprächs ziehen, erlaubte es den Menschen, sich freier zu bewegen; die Sprache hatte da schon ihre Möglichkeiten der Grenzüberschreitung gefunden.

Personen auf dem Podium