Existentielle Spiele

06. April 2006
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Helmut Böttiger
Moderation: Sibylle Lewitscharoff

Programmtext

Der deutsche Fußball steckt in einer veritablen Krise. An mangelnder geistiger Durchdringung dieses Ballsports dürfte das jedoch nicht liegen – eine Vielzahl von mehr oder weniger klugen Büchern zum Thema Literatur und Fußball erscheinen zur WM. Aus der Masse der Neuerscheinungen ragt dasjenige des bekennenden SC Freiburg-Fans und Literaturkritikers Helmut Böttiger heraus, der 1993 mit seinem Feuilletonbuch „Kein Mann, kein Schuß, kein Tor” stilbildend wirkte. Die Kernthese Böttigers lautet, man müsse ein Spiel, ein System, eine Mannschaft kritisieren wie einen Roman oder ein Kunstwerk. In seinem neuen Buch „Schlußball. Die Deutschen und ihr Lieblingssport” (Suhrkamp) arbeitet er aber auch heraus, wie Autoren der Weltliteratur mit dem Phänomen des „existentiellen Spiels” umgehen. Schriftsteller wie Kafka, Canetti, Pasolini, Nabokov, Camus oder Sartre sind die Kronzeugen, anhand derer der beliebteste Sport der Welt reflektiert wird. Aus der jüngeren deutschen Literatur werden Peter Handke, Ror Wolf oder Ingo Schulze zitiert. Mit dem Autor spricht die Berliner Autorin und kenntnisreiche Beobachterin der Fußball- und Literaturszene Sibylle Lewitscharoff.

 

Weiterführende Informationen

Fußball in der Literatur. Zunächst mag es überraschen, dass der Literaturkritiker Helmut Böttiger von seiner schweren Kriegsdienstverweigerungszeit in den späten 70er Jahren berichtet, als junge Männer noch vor einer Kommission ihre Gewissensgründe darlegen mussten. Am Ende des Textes (erläutert im ersten Teil der Aufnahme) erschließt sich jedoch Böttigers Verfahren, das rund um den Fußball als gesellschaftliches Phänomen kreist: Denn einer der Vorsitzenden der Kommission fragt den jungen Ich-Erzähler Böttiger so nebenbei nach seinem Heimatverein - und wie dieser am Wochenende gespielt hat. Sibylle Lewitscharoff sieht einen Zusammenhang zwischen Militär und Fußball bei der Realisation männlicher Ehrbegriffe. Helmut Böttiger beschreibt das Fußballverständnis hierzulande als Fortsetzungsgeschichte deutscher, kleinbürgerlicher Tugenden, in der Kampf und Kraft im Mittelpunkt stehen - und nicht Spielfreude und Improvisationskunst. Eine Radioeinspielung, in der Günter Koch ein legendäres Bundesligaspiel zwischen dem 1. FC Nürnberg und Bayern München aus den 80ern kommentiert, kündigt den zweiten Teil der Lesung an, in der es um den Fußballkommentator Günter Koch geht.

Personen auf dem Podium