Geschichten aus einem Haus

28. Mai 2008
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Lesung: Jenny Erpenbeck
Moderation: Jan Bürger

Programmtext

Sie ist die große Spurensucherin der jüngeren Literatur. In ihrem Roman Heimsuchung verwandelt Jenny Erpenbeck einen unscheinbaren märkischen Ort in ein poetisches Kaleidoskop der deutschen Vergangenheit.

Weiterführende Informationen

Dass die Vorstellung, die menschliche Persönlichkeit bestehe aus geologisch zu erforschenden Sedimenten, eine große Faszination gerade auf Schriftsteller und Schriftstellerinnen ausübe, betont Jan Bürger in seiner Einführung. Auch Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung gibt dieser Faszination Ausdruck, wenn es heißt, dass nach der Geburt eine "geraffte Menschheitsgeschichte" beginne, nachdem in der Entwicklung des Embryos sämtliche Stufen der Evolution durchlaufen worden wären. Jedoch tauge dieses Motiv auch als Beschreibung des Kompositionsprinzips des Romanes selbst, der aus einzelnen, in sich abgeschlossenen Geschichten gebildet ist. Verschiedenste Ereignisse und Personen verbinden sich so über die Zeit hinweg in einem märkischen Anwesen, das dortige Haus wird zum poetisch zu erforschenden Archiv der Trümmer deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert.

Nach dem Prolog, der tatsächlich mit dem Einbruch der Eiszeit einsetzt und als handelnde Person das Eis selbst in seiner topographischen Arbeit zeigt, liest Jenny Erpenbeck zunächst zwei Episoden des Gärtners, einer fast zeitenthobenen Figur des Anwesens am von Fontane so genannten Märkischen Meer, das als Überbleibsel des vergangenen Eises beschrieben wird. Es folgt die Geschichte "Der Tuchfabrikant" über den jüdischen Fabrikanten Ludwig, der auf dem Grundstück 1936 "wohlweislich" nur ein Gartenhaus baut, dann nach Südafrika auswandert. Seine Eltern besuchen ihn dort und kehren wieder nach Deutschland zurück. "Dies ist die Lage", sagt Jenny Erpenbeck vor diesem eindringlichen Teil der Lesung, der in Deportation und Vernichtung gipfelt.

Im anschließenden Gespräch erläutert Jenny Erpenbeck, dass sich das im Roman beschriebene Haus über vierzig Jahre im Besitz der Familie der Autorin befunden habe. Darüber hinaus beschreibt sie die Recherchewege, die sich aus dem autobiographischen Anlass ergeben und auf denen sich, "wenn man genau hinschaut" die Sachen "von selbst" erfunden hätten. Ein produktives Sich-Verlieren in den Archiven also lässt die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion als Oberflächenphänomen erkennbar werden.

 

 

Personen auf dem Podium