Studio LCB mit W.G. Sebald

25. November 1997
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: W.G. Sebald
Moderation: Denis Scheck
Gesprächpartner: Heinrich Detering, Gustav Seibt

Sobald alle Rechtsinhaber zugestimmt haben, wird diese Veranstaltung vollständig nachzuhören sein.

Weiterführende Information

Erstaunlich an diesem bemerkenswerten Studio-LCB ist, dass der Autor keinen genuin erzählenden Text, sondern einen Essay vorträgt, der Gottfried Keller und den badischen Raum zum Thema hat. W.G. Sebald verschränkt in seinen Überlegungen zum Klassiker aus der Schweiz unterschiedliche Prosaelemente. Man hört einerseits den akribischen Literaturwissenschaftler heraus, der sich mit Kellers Hauptwerk "Der grüne Heinrich" auseinandersetzt. Auf der anderen Seite lässt Sebald den Text in metaphysische, religiöse und historische Bereiche gleiten, die dem 'Traktat' einen literarischen Charakter verleihen. Jedenfalls zeigen sich die Teilnehmer dieser Lesung und Debattenrunde nicht nur begeistert, sondern bewegt. Das hat viele Gründe. Vordergründig überzeugt die Ästhetik des Essays. Man merkt, dass Sebald zahlreiche interessante historische Details herausarbeitet und dabei überraschende Querverbindungen herstellt, die dann Seibt und Detering zu analytischen Überlegungen animieren. So deutet der Autor den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts in Süddeutschland als Verachtung und Furcht gegenüber einem Leben in der Diaspora. Sebalds frappierende Vernetzung besteht schließlich darin, dass er erzählt, wie nach der gescheiterten Revolution 1848 bis zu 80 000 Leute aus dem badischen Raum in die Vereinigten Staaten emigrierten - und dort gerade die Erfahrung, in der Diaspora zu leben, selber machten. Ergo: Er demonstriert, wie ein antisemitisches Vorurteil aufgrund sozialpolitischer Ereignisse erodieren musste. Bei derart zahlreichen historischen Bezügen überrascht es, dass Sebald, auch weil er zu diesem Zeitpunkt in höchsten Tönen von der Literaturkritik gelobt wurde, an einer "Zeitlosigkeit der Literatur" nicht glaubt (Sebald meint damit, dass er an den Bestand des Systems kanonisierter Literatur, wie er im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden ist, nicht mehr recht glauben mag). Auch sonst thematisiert die Runde die Melancholie in Sebalds Texten oder unterhält sich mit dem Autor über sein Leben in der Fremde (beziehungsweise in England) oder spricht mit ihm über die späte Aufmerksamkeit, die seinem literarischen Werk zuteil wurde.

Programmtext

W.G. Sebalds Karriere gehört zu den eigentümlichsten der neueren deutschen Literatur. Mit Schreiben begonnen hat der studierte Literaturwissenschaftler erst Mitte der 80er Jahre, als Motiv dafür nannte er die Suche nach einem "Ausweg aus der Alltagsroutine". Diesen Ausweg hat Sebald zunächst in dem langen "Elementargedicht" "Nach der Natur" (1988) gefunden. Dann in Prosabänden wie "Schwindel. Gefühle" (1990), "Die Ausgewanderten" (1992) und zuletzt in dem fiktionalen Reisebericht "Die Ringe des Saturn". "Die schweren Dinge so zu schreiben, dass sie ihr Gewicht verlieren", auf diesen Nenner hat Sebald einmal sein literarisches Programm gepackt. Im Brotberuf lehrt der 1944 in Wertach geborene Allgäuer an der University of East Anglia in Norwich. W.G. Sebald wird aus einem in Vorbereitung befindlichen Essayband lesen und darüber mit dem Tübinger Schriftsteller Rolf Vollmann und dem Literaturwissenschaftler Heinrich Detering sprechen.

Personen auf dem Podium