„Wien, Juli 1999“

12. Juli 2000
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Lesung: Milo Dor

Programmtext

So nachhaltig wie bei der Lektüre der Romantrilogie „Die Raikow Saga“ von Milo Dor (geb. 1923) – bekundete der Schriftsteller Michael Scharang – habe er sich noch nie darüber geärgert, ein Buch nicht schon längst als Jugendlicher oder Student gelesen zu haben. Hier fand er endlich „die kritische Auseinandersetzung mit unserer Zeit, und zwar die direkte, unverblümte – nicht jene über fünf Ecken, von der wir in unserer Literatur wie auch sonst genug haben“. Auch Milo Dors 1997 veröffentlichte Geschichte „Wien, Juli 1999“ widmet sich einem zeitkritischen Thema, dessen Aktualität die Ergebnisse der letzten österreichischen Parlamentswahlen erneut bestätigt haben.

Weiterführende Informationen

„Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich.“ Dieses Zitat des berühmten sephardischen Rabbi Menasse ben Israel stellt Milo Dor seiner 1996 geschriebenen dystopischen Erzählung „Wien, Juli 1999“ voran. Sein Erzähler ist der mit autobiographischen Elementen versetzte Mladen Raikow, Protagonist der früheren, eben als Raikow-Saga zusammen veröffentlichten Romantrilogie des Autors. Drei Jahre in die Zukunft entworfen, sieht sich Raikow mit einer neuen österreichischen, faschistischen „Freiheitsbewegung“ konfrontiert, die sehr deutlich an die FPÖ unter Jörg Haider angelehnt ist. Zu Beginn der Erzählung, die Milo Dor hier liest, wohnt Raikow einer Massenveranstaltung jener Bewegung bei, verlässt diese aber angewidert, bevor ihr Führer Haselgruber zu sprechen beginnt. Stattdessen begibt er sich in eine abgelegene Wiener Trattoria, die von Spuren eines Pogroms gegen hauptsächlich türkische Ladenbesitzer gezeichnet ist. Dort kommt er ins Gespräch mit dem albanischen Wirt – im Hintergrund gestikuliert Haselgruber auf einem Fernsehbildschirm ohne Ton. Das offene und kosmopolitische Wien erlebt abermals seine letzten Stunden.
Im  Anschluss liest Milo Dor die von ihm als „kulinarisch“ und „Satyrspiel“ bezeichnete Erzählung „Ich habe Sehnsucht nach dem alten Thrakien“. Im Kern ein Erinnerungsstück werden hier aber, thematisch durchaus passend, wenn auch in einem leichteren Erzählton, kakanisch-kosmopolitische Identitäten bewegt – vom polylingualen Budapest über die Liebe zu einer serbischen Jüdin bis zum Topfenstrudel.

Personen auf dem Podium