Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter
06. April 2016
Literarisches Colloquium Berlin
Anna Katharina Hahn in Lesung und Gespräch
Gesprächspartner: Thomas Hettche
Programmtext
„Ich zog mich vor dem Badezimmerspiegel aus, hängte das Hauskleid wieder an seinen Haken und besah mir, auf einmal ganz ruhig, was ich aus dem Schlafzimmer mitgenommen hatte. Es war nur ein Teil: Mamas blaues Sonntagskleid mit dem schwingenden Rock, in dem sie nach Papas Worten ‚wie eine auf dem Kopf stehende Glockenblume’ aussah. Der feine Stoff glitt mühelos an meinem verschwitzten Körper herab. Wie eine kluge Schlange schlüpfte der schmale rote Lackgürtel durch die Schlaufen an der Taille, Knöpfe und Haken schlossen sich fast von selbst.”
Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Ana María, genannt Anita, gehört zur „verlorenen Generation“. Ihr Bruder, ein promovierter Germanist, hat sich bereits nach Berlin abgesetzt, um auf dem Bau sein Geld zu verdienen. Anita ist aus Not in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen, und die regelmäßigen Demonstrationen auf der Puerta del Sol im Herzen der überhitzten Metropole. Doch alles Schlimme lässt sich noch steigern: Eines Tages liegen Anitas Eltern tot in der gemeinsamen Wohnung. Unversehens rutscht sie in das Leben der Mutter hinein. Anita muss nur eines ihrer Kleider überstreifen, schon halten sie alle – auch Mutters geheimnisvoller deutscher Liebhaber – für Blanca: „Es fühlte sich gut an, meine Mutter zu sein. Ich war schön, auf eine mir unbekannte Weise … Selbst in den Gesichtern mancher Frauen sah ich ein Aufleuchten.”