Eröffnung der Kabinett-Ausstellung „Vom Schreiben 4: Im Caféhaus oder Wo schreiben?“

14. Juli 1996
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Zur Eröffnung sprechen: Ulrich Ott, Ursula Krechel, Rudi Kienzle

Programmtext

Kabinett-Ausstellungen
Sonntag, 14. Juli, 11 Uhr
Eröffnung der Kabinett-Ausstellung
‚Vom Schreiben 4: Im Caféhaus oder Wo schreiben?‘ Bearbeitet von Rudi Kienzle mit einem Essay von Ursula Krechel über Schreiborte in Shanghai und anderswo.

„Es ist nötig zu sagen, daß mein Vetter ziemlich hoch in kleinen niedrigen Zimmern wohnt. Das ist nun Schriftsteller- und Dichtersitte. Was thut die niedrige Stubendecke? Die Phantasie fliegt empor, und baut sich ein hohes, lustiges Gewölb bis in den blauen glänzenden Himmel hinein. So ist des Dichters enges Gemach, wie jener zwischen vier Mauern eingeschlossene, zehn Fuß ins Geviert große Garten, zwar nicht breit und lang, hat aber stets eine schöne Höhe.“
Die Szene stammt aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung ‚Des Vetters Eckfenster‘. Die Ausstellung bietet allerlei unterhaltsame, strenge und heitere Beispiele: Wie etwa schildert Thomas Mann Schillers Schreibgewohnheiten? Wie zeichnen Mörike und Hauff ihre Produktionsorte, wie Wilhelm Raabe? Eichendorff, Morgenstern, Arno Holz und Robert Walser schreiben in Dachstuben hoch über der Welt, Rilke und Sudermann in Schlössern, Arnold Zweig in einem eigens errichteten Schreibhäuschen. Arno Schmidt und Hans Henny Jahnn machen den Schreibtisch zum Laboratorium, Benn, Böll oder Weyrauch brauchen die produktive Schreibtischlandschaft. Manche Autoren schreiben im Gehen, auf Reisen oder im Café, im Hotel oder im Gefängnis: Das ‚Marbacher Magazin‘ 74/1996 liefert mehr als ein halbes Hundert von Beispielen, mit vielen Bildern.

Weiterführende Informationen

Die vierte Kabinett-Ausstellung der Reihe „Vom Schreiben“ im Schiller-Nationalmuseum ist den Schreiborten gewidmet. Ulrich Ott betont einleitend, dass sich nicht nur das Finanzamt für Arbeitszimmer interessiere. Ursula Krechel trägt anlässlich der Ausstellungseröffnung „Vom Schreiben 4: Im Caféhaus oder Wo schreiben?“ die leicht gekürzte Fassung ihres Essays mit dem treffenden Titel „Ausgesetzt in Einfallschneisen“ (vollständig abgedruckt im „Marbacher Magazin 74/1996“) vor, in dem sie ihre eigenen Schreibgewohnheiten thematisiert und die genuinen privaten und öffentlichen Schreiborte einiger ihrer Schriftstellerkolleginnen und -kollegen anführt.

Ursula Krechel erzählt in „Ausgesetzt in Einfallschneisen“ von ihrem Aufenthalt in Shanghai, wohin sie auf der Suche nach den Spuren der knapp 20.000 jüdischen Flüchtlinge, die sich vor dem Nationalsozialismus dorthin gerettet hatten, gereist war. Das karg möblierte, schon etwas heruntergekommene Zimmer im Gästehaus der Universität an ihrem neuen Schreibort Shanghai mit einem Schreibtisch, der auf den ersten Blick zu niedrig, zu winzig und etwas zu wacklig wirkt, sich dann aber „als vollkommen brauchbar, zufriedenstellend, ablenkungslos“ erweist, das lautstarke Gewimmel und Gewerkel der Millionen Menschen auf den Straßen, der Vogelmarkt mit seinem Gezwitscher sowie der Singsang der fremden Sprache und der neugierig sie befragenden chinesischen Studentinnen bieten genug verführerische Anreize zum schriftlichen Festhalten der Eindrücke und Gedanken. Ursula Krechels großer Exil-Roman „Shanghai fern von wo“, für den sie zahlreiche Auszeichnungen erhielt, wird allerdings erst 2008 veröffentlicht werden.

Zu den ‚klassischen‘ Schreiborten zählen bekanntlich die Bibliothek, die Gefängniszelle, die Küche, das Caféhaus oder auch das Hotel(zimmer). Ursula Krechel berichtet in ihrem Essay beispielsweise von Heinrich Böll, der in einer besonders glücklichen Lage gewesen sei: Er konnte laut eigener Aussage überall schreiben, wo er sich halbwegs einrichten konnte und Ruhe hatte. Hermann Hesse erinnert sich in seiner autobiographischen Erzählung „Der gestohlene Koffer“ (1944 geschrieben) an die damals üblichen, für ihn „heilsamen“ Badekur-Aufenthalte, wo er auch tagsüber viele Stunden im Bett verbrachte und nur im Liegen schriftstellerisch tätig wurde: „Ich hatte auf meiner alten, schon sehr abgenützten Leinenmappe im Liegen manchen Brief geschrieben, und je und je auch, meist tief in der Nacht, ein paar Verse [...].“ Nelly Sachs schreibt in einem Brief vom 17.03.1948, dass sie bis zu diesem Tag keinen Schreibtisch besessen hätte und dass sie ihre Manuskripte im Küchenschrank aufbewahre. Marie Luise Kaschnitz bekenne sich in ihrem Buch „Orte“ (1973) eher zu Bettkanten, zu Sesselecken, zu einer schoßhaft verborgenen, tischlosen Schreibweise, so Ursula Krechel. Und Joseph Roth habe das Lesezimmer des Pariser Hotels Foyot annektiert, dort geschrieben und zwischendurch seine Besuche empfangen.

Personen auf dem Podium