Gibt es noch eine Annäherung an Friedrich Schiller?
23. April 2005
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Vortrag: George Steiner
Einführung: Ulrich Raulff
Programmtext
Vortragsreihe: Schiller international
Namhafte Intellektuelle sprechen über Schillers Bedeutung in den Ländern, aus deren Geschichte Schillers Dramenstoffe stammen. Zu Gast in Marbach sind: Adolf Muschg, Basel („Schillers Schweiz“, Donnerstag, 21. April, 20 Uhr), Ute Frevert, Yale („Ein Dichter für viele deutsche Nationen“, Freitag, 22. April, 16 Uhr), Giuseppe Bevilacqua, Florenz („Eine Galionsfigur des Risorgimento“, Freitag, 22. April, 20 Uhr), George Steiner, Cambridge (Festvortrag „Gibt es noch eine Annäherung an Friedrich Schiller?“, Samstag, 23. April, 20 Uhr), Etienne François, Berlin („Die Heimholung der Jungfrau. Der Citoyen Gille und sein zweites Vaterland“, Sonntag, 24. April, 11 Uhr), Nicholas Boyle, Cambridge („England oder die feindlichen Brüder“, Sonntag, 24. April, 16 Uhr), Svetlana Geier, Freiburg i. Br. („Dostojewski liest Schiller“, Sonntag, 24. April, 20 Uhr).
Weiterführende Informationen
„Ein großer Dichter und Denker – wir wissen, dass es sich hier um eine plumpe Benennung einer prinzipiellen Einheit handelt – liest uns, wir lesen ihn nicht – er liest uns, er befragt, er prüft unsere Rezeptionsfähigkeit, die Empfangsmöglichkeiten unseres inneren Ohrs.“ George Steiner stellt die Frage nach den möglichen Annäherungen an Friedrich Schiller unter der Prämisse einer Gegenwart, der Schillers Werk problematisch geworden ist. Schillers hoher Ton treffe auf ein „radikal anti-rhetorisches Klima“, das es eher zulasse, in der stotternden Rede Woyzecks oder den kargen Prosasätzen Becketts oder Kafkas Glaubwürdigkeit zu finden, als in den an klassischen und antiken Vorbildern geschulten, figurativen Versen des deutschen Klassikers. Doch George Steiner hält an der Notwendigkeit fest, sich für das Werk Schillers zu öffnen, ja, er problematisiert Schiller gleichermaßen wie die so weit von ihm entfernte Gegenwart, die die Erfahrung des 20. Jahrhunderts in sich trägt. Er selbst spricht dabei als ein Überlebender dieses Jahrhunderts und seines zentralen Verbrechens: „Mit dem Abstieg Europas in die Barbarei des 20. Jahrhunderts“ habe der Begriff des Klassischen „seine Glaubwürdigkeit größtenteils verspielt.“ Nicht erst mit Hans Fabricius' Schiller als Kampfgenosse Hitlers (1932), sondern bereits mit Wilhelm Raabes Preisung Schillers als „Führer und Heiland“ der kommenden Nation habe eine bedenkliche Haltung zu Schillers Werk begonnen. Dass er auch in der DDR als „erkorener Klassiker“ und politischer Erzieher immense Wirkung entfaltete, zeigt ihn vielleicht als Autor, dessen Werk zu politischer Vereinnahmung einlädt. Steiner wischt solche Rezeptionsmöglichkeiten nicht banal als feindliche Aneignung weg, sondern fragt direkt nach den Gefahren in Schillers Werk und Sprache. „Ich weiß nur, dass das Große immer gefährlich ist, dass es uns immer prüft. Aber was wäre das Fortleben des menschlichen Geistes ohne solche Gefahr?“