„Oben das Feuer, unten der Berg“

21. März 2016
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Lesung: Reinhard Jirgl
Moderation: Jan Bürger

Programmtext

In seinem neuen Roman nimmt der Büchner-Preisträger und furiose Sprachkünstler das Fortleben der alten DDR-Seilschaften in den Blick.

Weiterführende Informationen

Die geschichtliche Überlieferung bestehe, so Reinhard Jirgl, aus Scherben, ließe immer Lücken, in denen die Phantasie „anwurzeln“ könne. Der von Alfred Döblin geprägte Begriff der „Tatsachenphantasie“ sei hier das „Zauberwort“ und kondensiert somit wohl die theoretische Grundlage von Reinhard Jirgls hier vorgestelltem Roman, wie er sie in den sehr voraussetzungs- und beziehungsreichen Gesprächsteilen der Lesung umreißt. Ganz bewusst habe er nicht die geschichtliche DDR abbilden, sondern vielmehr eine „Gegenwirklichkeit“ entwerfen wollen. Der Roman geht von drei phantastischen Elementen aus: die Wende von 1989 hat nicht stattgefunden, sondern in ihrem revolutionären Charakter lediglich zur Verdeckung von Kontinuitäten gedient – die Mächtigen blieben die Mächtigen; auf dem Boden der DDR operierte eine Mordeinheit namens Kozero (die „Kommerzielle Zersetzung der Opposition in der DeDeR“) und schließlich wurden die enormen Summen der Aufrüstung nicht in Waffen gesteckt, sondern zweckentfremdet in eine gigantische Raumstation, die im Falle eines atomaren Krieges zur Evakuierung der Regierenden und Herrschenden dienen sollte. Die hier vorgelesenen Teile aber beschäftigen sich hauptsächlich mit Theresa, einer Historikerin, die dreijährig ihren Eltern vom Staat entrissen wurde und in den 70er Jahren auf Geheimakten der DDR stößt. 

Nach seinem dystopischen Sci-Fi-Roman „Nichts von euch auf Erden“ sucht Reinhard Jirgl also das Phantastische in der Vergangenheit – durchaus aber mit dem Anspruch, diese und die Gegenwart in realer Form sowie ihr Verhältnis zueinander zu beleuchten. Es gehe ihm um den Konjunktiv der Wirklichkeit. Es verwundert daher nicht, dass Reinhard Jirgl als Bauprinzip dieses Romans einer Geschichtsvision ein Wahrsagesystem, nämlich den altchinesische Text I Ging verwendet. Dessen semiotische Struktur und erzähltechnische Nutzung erläutert er im zweiten Gesprächsteil. 

Personen auf dem Podium