Studio LCB mit Martin Walser

05. November 1990
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Martin Walser
Moderation: Hajo Steinert
Gesprächspartner: Jurek Becker, Volker Hage

Programmtext

In Fortsetzung der Reihe "Studio LCB" liest Martin Walser aus bisher unveröffentlichten Texten und diskutiert mit seinen Kollegen Jurek Becker und Volker Hage über seine Arbeit. Die Reihe "Studio LCB" ist eine Gemeinschaftsveranstaltung mit dem Deutschlandfunk, der die Abende an jedem ersten Samstag im Monat von 20.05 bis 22.00 in seinem Programm (Berlin: MW Frequenz 810 kHz) überträgt.

Weiterführende Informationen

Diese Studio-LCB-Sendung erhält ihre Spannung durch den kontroversen Disput zwischen Martin Walser und Jurek Becker. Ausgangspunkt ist der Essay "Vormittag eines Schriftstellers" von Martin Walser, in der dieser der Öffentlichkeit vorwirft, normative Diskurse mit zweifelhafter Aussagekraft zu führen. Seine Kritik an der vierten Gewalt ist dabei umfassend. Bei ihren Versuchen, die realen Verhältnisse zu beschreiben, so der Schriftsteller weiter, würde die Presse oft soziale Wirklichkeiten verfehlen oder sie nach ihren Vorstellungen zurechtbiegen - und gibt als Beispiel den 1990 laut gewordenen Vorwurf wieder, die friedliche Revolution in der DDR sei nicht von den politischen Verhältnissen, sondern vom Bedürfnis nach westlichem Konsum bestimmt worden. Walser spitzt seine Polemik immer wieder zu. Die Kernaussage lautet, in den Feuilletondebatten würden bestimmte Meinungen und Aussagen als legitim aufgefasst, andere wiederum wie ein Tabubruch behandelt und entsprechend diskriminiert werden. Die Kontroverse entfacht sich, als Jurek Becker Walsers Text als intellektuellenfeindlich bezeichnet und dem Verfasser ein Gekränktsein vorhält, aus dem heraus er die in einer Demokratie selbstverständliche Meinungspluralität attackiere. Walsers Ansichten zur deutschen Einheit hält Becker angesichts rassistischer und chauvinistischer Tendenzen im neuen Deutschland für schönfärberisch und unkritisch. Jurek Becker räumt jedoch auch ein, dass ein von Walser 1988 geschriebener Essay, in welchem der Autor die deutsche Teilung als inakzeptabel charakterisierte - und dafür massive, ja sogar vernichtende Kritik erntete, aus dem Blickwinkel von 1990 heraus sich völlig anders läse. Teilaspekte von Walsers Argumentation lässt Becker gelten.
In den Hintergrund gerät dabei Walsers Roman "Die Verteidigung der Kindheit", aus dem er am Ende der Veranstaltung vorliest. Das Buch erschien knapp ein Jahr später - es wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert und ein Publikumsrenner. In dem Roman geht Walser einer Biographie nach, die von den komplizierten gesellschaftlichen Bedingungen im geteilten Nachkriegsdeutschland geprägt wird.

Personen auf dem Podium