Studio LCB mit Walter Kempowski
22. Oktober 2002
Literarisches Colloquium Berlin
Lesung: Walter Kempowski
Gesprächspartner: Martin Ebel und Volker Hage
Moderation: Maike Albath
Programmtext
Der Schriftsteller Walter Kempowski ist ein Archivar deutscher Zeitgeschichte. Eine untergegangene Welt festzuhalten und literarisch zu verdichten, war der erste Anstoß seiner neunbändigen "Deutschen Chronik". Kempowski, 1929 in Rostock geboren, erlebte die Nazizeit in einer großbürgerlichen Familie, die blind für die politischen Umstände blieb. Als 19-jähriger wurde er 1948 von einem russischen Militärtribunal zu 25 Jahren Haft verurteilt. Nacht acht Jahren Zuchthaus in Bautzen erfolgte 1956 eine Amnestie. Kempowski siedelte in den Westen über, wo er Grundschullehrer wurde. Den Ausgangspunkt seiner literarischen Arbeit bildet die Recherche: der Autor sammelte Befragungen von Zeitzeugen, Tonbänder, Briefe, Fotografien und Tagebücher. Aus den Realien im Zettelkasten, verwoben mit autobiographischen Erfahrungen entstand die Chronik einer deutschen Familie. Zeit- und Sozialgeschichte fließen ineinander, aus privaten Sprachmustern, historischen Tatsachen, individuellen und kollektiven Verwicklungen ergibt sich ein facettenreiches Bild des vergangenen Jahrhunderts zwischen Kaiserzeit und Wirtschaftswunder. Nach seinem Debüt "Im Block" (1969) über die Haftzeit in Bautzen gelang Kempowski 1971 mit "Tadellöser & Wolff" der Durchbruch als Schriftsteller. Es folgten die Bände "Uns geht's ja noch gold" (1972) und "Aus großer Zeit" (1978), die auch durch die Verfilmungen von Eberhard Fechner berühmt wurden. Seine Montagetechnik perfektionierte Kempowski im "Echolot", einem kollektiven Kriegstagebuch, das inzwischen auf elf Bände angewachsen ist und die Jahre 1941, 1942 und 1945 behandelt - Collagen aus Soldatenbriefen, Aufzeichnungen von Zivilisten und Beobachtungen von Künstlern. Das monumentale Werk soll den "Krebsgang der Menschheit" auf eine Formel bringen. Der Autor tritt hierbei zurück und wird zur registrierenden Instanz. Mit Walter Kempowski diskutieren die Literaturredakteure Martin Ebel (Tages-Anzeiger, Zürich) und Volker Hage (Der Spiegel, Hamburg).
Weiterführende Informationen
In dieser Studio-LCB-Sendung beschäftigt man sich mit dem Werk von Walter Kempowski und seinem Lebensweg. Neun Romane, zahlreiche Tagebücher und Notizhefte und schließlich die Echolot-Bücher ergeben ein gewaltiges Werk, weswegen der Schriftsteller gleich drei Mal aus verschiedenen Teilen seines Oeuvres vorliest.
Zunächst beschäftigt man sich aber mit dem Werdegang des Autors. Mit 19 Jahren wurde Kempowski in der DDR verhaftet; ein politischer Häftling also, der wegen einer Bagatelle neun Jahre im Gefängnis saß. Maike Albath fragt, wie es ihm denn schließlich in der BRD als Flüchtling und ehemaliger Strafgefangener ergangen sei. Kempowskis Antwort lautet: „Was machen Sie dann mit dieser wahnsinnigen Vergangenheit? Sie kommen irgendwohin und sagen, Sie haben acht Jahre gesessen. Da laufen die Leute weg.“ Die Moderatorin verweist auf den Zusammenhang zwischen seinem "beängstigenden Fleiß" und den Jahren im Bautzener Gefängnis. "Wenn Sie gesessen haben", so Kempowski weiter, "muss man viel nachholen."
Die Literaturkritiker Martin Ebel und Volker Hage analysieren Walter Kempowskis Werk unter Aspekten wie diesen: Gehören beispielsweise die Romane des Autors mehr zur Unterhaltungsliteratur oder unterschlägt man mit dieser Behauptung ihren künstlerischen Gehalt? Kann man das „Echolot-Projekt“ als uferlos bezeichnen oder ist diese Sammlung der Stimmen aus dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar mit einem großen Fluss?