Krisen / Schreiben: Naturlyrik bis Nature Writing
6 Veranstaltungen # Samuel Kramer / Lyrik Kabinett
Das Lyrik Kabinett, München, hat Samuel Kramer, Lyriker*in und Herausgeber*in der Anthologie „Poetry for Future – 45 Texte für Übermorgen“ (2020), eingeladen, sich über ausgewählte Dichterlesen.net-Veranstaltungen mit Entwicklungslinien von Naturlyrik bis Nature Writing zu beschäftigen. Samuel Kramer entwirft eine so imaginative wie zerbrechliche wie aktivistische Poetik der Luftlöcher und ergänzt den Archivrückblick durch ein neues Gedicht.
Natürlich Natur? Auf der Suche nach neuen Begriffen
In der Antarktis schneit es Mikroplastik. Im Amazonas treibt das Quecksilber flussabwärts. Irgendwo sinkt ein toter Pottwalkörper in die lichtlose Zone des Ozeans, im Magen Teile eines Smartphone-Prozessors. Wenn Natur die Sphäre des Universums bezeichnen soll, die frei von menschlichem Einfluss existiert, dann gibt es davon, allein in Anbetracht des aufgeheizten Klimas und der planetaren Verschmutzung, keine mehr – so schreibt der Umweltaktivist Bill McKibben in „The End of Nature“ (1989).
Was bedeutet das für die Naturlyrik? Wovon schreiben wir (noch), wenn wir Nature Writing betreiben? Verstehen wir Staubsauger und Wolkenkratzer ebenso als Teil der Natur oder Umwelt, wie wir es mit den Konstruktionen und Bauten anderer Tiere zu tun pflegen (gedacht sei an Biberdämme oder Termitenhügel) – und ist dann irgendwie alles Naturlyrik?
es gibt, sag ich, kein Draußen, ihr Spezies, offenen Auges
(Karin Fellner, Zeugs meiner Herrlichkeit)
Ich sympathisiere mit dieser umfassenderen Option der Verwendung von Natur, weil sie parallel zu der Erkenntnis steht, dass buchstäblich alles, was wir tun, einen winzigen, aber entscheidenden Einfluss hat auf die Stabilität und das Bestehen der lokalen und planetaren Bedingungen, die unsere Zivilisation überhaupt erst ermöglichen (samt solch luxuriöser digitaler Artefakte wie digitaler Lesungsaufzeichnungen).
Gleichzeitig bedarf es eines geschärften Begriffs, um der Besonderheit derjenigen Texte gerecht zu werden, die sich beispielsweise jenseits konventioneller Verständnisse mit nicht-menschlichen Lebewesen auseinandersetzen oder in ihrer (De-)Konstruktion von Landschaft dezidiert ökologische Fragen aufwerfen. Dafür braucht es in Zeiten der Letzten Generation und Fridays for Future vielleicht umso dringlicher neue Namen – ich werde hier keine vorschlagen, nur auf die Begrenztheit dieser (lies: jeder) Benennung hinweisen.
Begriffstänzeleien beiseite, fest steht, dass ein Gedicht, in dem ein Baum, ein Dachs, ein Auto auftaucht, vor dem folgenden Schlagworthorizont gelesen werden kann (lies: muss): Klimakollaps, Korallenriffe, Kapitalismus … Mikro- und Nanoplastik steckt jetzt und für immer auch im Schnee der Gedichte – selbst jener, die verfasst wurden, lange bevor die Ölpumpen und -raffinerien zu laufen begannen.
Für die Nachgeborenen: Literarische Weltentwürfe
Die Bäume in Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“, von denen zu sprechen das „Schweigen über so viele Untaten einschließt“, haben eine weitere Schicht der Unbefangenheit verloren, seit die Frage des Natur-Kultur-Verhältnisses als eine Frage des Überlebens erkennbar geworden ist. Zwischen der Beschreibung konkreter Phänomene und den im Gedicht geöffneten Deutungsräumen treten immer stärker die darin zum Ausdruck gebrachten Annahmen hervor. Annahmen, die letztlich den Platz des Menschen im Kosmos und dessen Beziehung zu allem Nicht-Menschlichen betreffen (oder diese Dichotomie in Frage stellen).
I open my eyes the lanternfish have gone home in darkness
(W. S. Merwin, The Child)
In Anbetracht der Zerstörung planetarer Lebensgrundlagen sind schließlich alle menschlichen Praktiken neu in Frage zu stellen – darunter die Lyrik. Auch und gerade, weil dieser immer wieder emphatisch ein besonderes Potenzial zugesprochen wurde, die NATUR zu erfassen oder ökologische Themen zu behandeln. Als wären Gedichte Ackerflächen, auf denen nur nachhaltig gewirtschaftet werden kann. Von einem generellen und besonderen Potenzial der Lyrik in Bezug auf ökologische Fragen auszugehen, hieße nicht nur, als Dichter*in das Angenehme mit dem Nützlichen kurzzuschließen (es wäre aber auch wirklich so schön einfach!). Es hieße vor allem, die enorme Vielfalt und Komplexität lyrischer Formen und die noch enormere – sorry, Lyrik – Vielfalt und Komplexität der tatsächlichen Lebenswelten zu vergessen.
Zugleich scheint es da doch etwas zu geben, eine Affinität. Die globalen Nachhaltigkeitskrisen sind auch Krisen der Vorstellungskraft, und insofern kann (und muss!) Literatur auch imaginative Vorarbeit leisten. Es gilt, immense erdgeschichtliche Zeithorizonte zu denken, mikroskopisch kleine Wesen sichtbar zu machen und nicht weniger als radikal andere Lebensformen zu erschließen. Für all diese Aufgaben hat die Lyrik Instrumente, kann jenseits konventioneller Muster von Narrativität, alltäglicher Begriffsverwendung und omnipräsenter Verwertungslogiken kleine und große Gegensprachen in Stellung bringen. Auch der emotionale Teil unserer Kognition und Erfahrung, den (natur)wissenschaftliche und politische Diskurse bis dato meist zu ignorieren oder auszuschließen versuchen, kann in der Literatur einen Resonanzraum finden, ohne überholten Vorstellungen von Lyrik als bloßem Gefühlsausdruck anheim zu fallen.
nicht einmal im wald lässt es sich wohnen.
(Ronya Othmann, abgesang)
Vielleicht ist es auch die Eigenschaft der spannendsten Gedichte, dass jeder sichtbar werdende Begriff in ein beinahe unerschöpfliches Geflecht wurzelt, dem zu folgen uns an ungewohnte und unerwartete Orte bringt, neue Verknüpfungen aufmacht – gleich dem Myzel der Pilze, das immer wieder als Metapher und Denkfigur ins Spiel gebracht wird, um den Verquickungen einer globalisierten Welt mental gerecht zu werden. Dabei sei an Donna Haraways Maxime erinnert, die auch für diese Auswahl gilt: „Nothing is connected to everything, everything is connected to something.“ (Nichts ist mit allem verbunden, aber alles ist mit irgendetwas verbunden.)
Lyrik als Luftloch
Viel schöner, als eine Theorie zu all diesen Möglichkeiten der (lyrischen) Sensibilisierung zu entwerfen, ist aber, ihren konkreten Umsetzungen nachzuspüren – auch weil sicher kein normiertes Rezept für ein klimapositives und biodiversitätsfreundliches Gedicht Auskunft darüber geben kann, wie das im Allgemeinen auszusehen hat. Genauso wenig darf indes, so muss ich mich selbst vielleicht am ehesten ermahnen, das Gedicht als Einzelnes dem schier unerträglichen Druck ausgesetzt werden, allein dem möglichen Aussterben der Menschheit etwas entgegenzusetzen, eine Wende, eine Wendung zu formulieren.
Nichts weniger beschäftigt einige Autor*innen aber beim Schreiben – das klingt aus den ausgewählten Gesprächen heraus. Multiple Krisen, nicht bloß ökologischer Art, schrieben und schreiben sich in die Texte ein – Ausdruck und Folge einer massiven Verunsicherung, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen zum Wandel aufruft. Ich glaube, es kann dabei eine Stärke lyrischer Texte sein, sich der eigenen Sache fundamental und ansteckend unsicher zu sein. Kerben zu schlagen und Luftlöcher zu pusten in den Strom scheinbarer Notwendigkeit auf dem Weg zum planetaren Burnout.
Die ausgewählten Lesungen präsentieren Texte und Autor*innen, die das auf je eigene Weise versuchen. Im einzelnen Werk, Gedichtband, Gedicht, treten überdies Querverbindungen zwischen Natur- und Nachhaltigkeitskrisen und anderen Gegenwartsdiskursen hervor, die dieser kurze Einführungstext nur andeuten kann: Natur hat im konkreten Fall und im konkreten Gedicht oft ein Gender, eine Nationalität oder eine Kolonialgeschichte.
Die ausgewählten Veranstaltungen sind unsichtbar verbunden mit vielen weiteren, deren Auslassung mir schwergefallen ist. Diese Auswahl gibt deshalb sicher keinen „Überblick“, sondern beansprucht allenfalls in einem kleinen, recht eurozentrischen Rahmen, exemplarisch zu sein. Aber sie stellt einen schönen Ausgangspunkt dar, um, vielleicht mit manchen der oben aufgeworfenen Fragen im Gepäck Reisen in die jüngere Geschichte und Gegenwart des – hier hätte ich gerne den mir fehlenden Begriff, sagen wir: Nature Writing zu unternehmen.
Für einen Start in der Gegenwart empfiehlt sich die LCB-Veranstaltung (2017) zu der von Anja Bayer und Daniela Seel herausgegebenen Anthologie „All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän“ (Berlin: kookbooks 2016), für einen systematischeren Einstieg das Gespräch „Die neue Popularität des Nature Writing in Deutschland – weshalb jetzt?“ (ilb, 2018). Für den historischen Zugang bietet sich der Abend im Lyrik Kabinett „A Language That Is Ever Green: Ein Abend mit Gedichten von John Clare“ an (2022), besonders, wenn der Name des britischen romantischen Dichters John Clare (1793–1864) nicht bereits bekannt ist. Oder Sie beginnen ganz woanders. Auch in dieser Hinsicht führt hier alles myzelgleich irgendwohin, wohin vorzudringen es sich lohnt.
Wenn ein großer Wal stirbt, sinkt sein Leichnam bisweilen in Tiefen des Meeres, wo sonst, von vulkanischen Schloten abgesehen, praktisch kein Licht, keine Wärme, keine Nährstoffe hingelangen. Dort entsteht dann zeitweise ein Ökosystem, das „Walfall“ genannt wird. Ich glaube, Gedichte können so ähnlich funktionieren. Ich wünsche es mir zumindest.