Autobiografiefiktionen (II). Gutgeschriebene Verluste

29. März 2012
Literarisches Colloquium Berlin

Bernd Cailloux stellt seinen Roman mémoire in Lesung und Gespräch vor.
Moderation: Hubert Winkels

Programmtext

Im Schöneberger Café Fler, einem Asyl der Übriggebliebenen aus dem alten Westberlin, sitzt im Jahre 2005 ein Mann von sechzig Jahren. Kein Eigenheim, keine Familie, keine Rentenansprüche. Stattdessen eine junge, vielleicht letzte Liebe, die ihn zu lange aufgeschobenen Reisen in die eigene Vergangenheit bewegt. Zweimal stand er im Blitzlicht der Geschichte: das erste Mal um 1968, als Miterfinder des Disco-Stroboskops und Hippie-Businessman; das zweite Mal Ende der Siebziger, als Irrwisch in der jungen Mauerstadt-Bohème mit ihren künftigen Weltstars, Opfern und Verrätern. Davor, dazwischen und dahinter liegen Schattenzeiten, in denen sich die verborgenen, aber nicht weniger spektakulären Dramen dieses Lebens abspielen: als in den Endwirren des Weltkriegs verlassener Säugling mit Familienspuren bis nach Buchenwald; als Drogenzauberlehrling, dessen Blut auch über drei Jahrzehnte nach dem letzten Schuss noch rebelliert; und nicht zuletzt als konsequenter Anti-Bourgeois in bourgeoiser Gegenwart, der seine kleinen Weigerungen immer teurer zu bezahlen hat. Aber macht sie das nicht um so kostbarer? Mit elegantem Understatement, doch ohne Rücksicht auf Verluste zieht Bernd Cailloux in seinem Roman die Lebensbilanz eines Mannes, der von Bilanzen nie viel wissen wollte. Das Werk steht in der französischen Tradition des Roman mémoires, einer im 18. Jahrhundert kanonisierten Version fiktiver Memoiren, die Cailloux virtuos fortschreibt.

Personen auf dem Podium