Dostojewski liest Schiller
24. April 2005
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Vortrag: Swetlana Geier
Einführung: Jan Bürger
Programmtext
Vortragsreihe: Schiller international
Namhafte Intellektuelle sprechen über Schillers Bedeutung in den Ländern, aus deren Geschichte Schillers Dramenstoffe stammen. Zu Gast in Marbach sind: Adolf Muschg, Basel („Schillers Schweiz“, Donnerstag, 21. April, 20 Uhr), Ute Frevert, Yale („Ein Dichter für viele deutsche Nationen“, Freitag, 22. April, 16 Uhr), Giuseppe Bevilacqua, Florenz („Eine Galionsfigur des Risorgimento“, Freitag, 22. April, 20 Uhr), George Steiner, Cambridge (Festvortrag „Gibt es noch eine Annäherung an Friedrich Schiller?“, Samstag, 23. April, 20 Uhr), Etienne François, Berlin („Die Heimholung der Jungfrau. Der Citoyen Gille und sein zweites Vaterland“, Sonntag, 24. April, 11 Uhr), Nicholas Boyle, Cambridge („England oder die feindlichen Brüder“, Sonntag, 24. April, 16 Uhr), Svetlana Geier, Freiburg i. Br. („Dostojewski liest Schiller“, Sonntag, 24. April, 20 Uhr).
Weiterführende Informationen
Jan Bürger betont einleitend, dass Swetlana Geier mit ihren Übertragungen ins Deutsche dem Lesepublikum den russischen Schriftsteller Dostojewski neu geschenkt habe. Im Rahmen der Reihe „Schiller international“ hält Swetlana Geier einen kenntnisreichen Vortrag über den (Schiller-)Leser Dostojewski und hat dabei – als sich stets zurückhaltende Übersetzerin – den Anspruch, den Autor selbst sprechen zu lassen, indem sie ausgewählte Passagen aus seinen Briefen und seinem Romanwerk vorliest.
Swetlana Geier berichtet anfangs von folgendem Schlüsselerlebnis: Im Jahre 1880 habe Dostojewski seinen beiden Kindern Schillers „Die Räuber“ in der Übersetzung seines Bruders Michail vorgelesen und in diesem Zusammenhang erzählt, dass er als Zehnjähriger in Moskau im Kleinen Theater die „Räuber“ mit dem berühmten Motschalow als Karl Moor gesehen habe – dies war also der Ausgangspunkt für seine lebenslange intensive Schiller-Rezeption. Im Januar 1840 erklärt Dostojewski in einem Brief an seinen Bruder Michail, dass er Schiller auswendig gelernt, mit ihm gesprochen, von ihm geträumt habe.
Dostojewskis Schiller-Verehrung kommt aber nicht nur in den enthusiastischen Briefen an seinen Bruder Michail insbesondere aus den 1840er Jahren zum Ausdruck, die im Vortrag als Belege herangezogen werden, sondern auch in der höchst komplexen Figurenzeichnung in seinem Romanwerk. Swetlana Geier führt detailreich aus, dass der Kellerloch-Mensch in Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ (1864) sich seiner Selbst bewusst sei und dass seine Reflexionen über das „Schöne und Erhabene“ keinen Zweifel an Dostojewskis intensiver Lektüre der Abhandlungen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ und „Über naive und sentimentalische Dichtung“ von Friedrich Schiller aufkommen ließen. Der Kellerloch-Bewohner sei „der leidenschaftliche Vertreter des Menschlichsten im Menschlichen: des Rechts auf Freiheit“. Einem Menschen mit gesteigertem Bewusstsein bleibe nichts anderes als die Rebellion. So brüste sich der Kellerloch-Mensch zum Angriff gegen die seine Individualität bedrohenden Mauern und er sei in Ermangelung von Waffen dazu bereit, diese mit seiner bloßen Stirn einzurennen, um in einem selbstmörderischen und gleichzeitig absurden Prozess sein Recht auf den freien Willen zu behaupten.
Swetlana Geier verweist im Laufe ihrer weiteren Ausführungen ausdrücklich auf den Kunstgriff Dostojewskis, zwischen dem Leser und dem Autor einen fiktiven Chronisten einzuschalten. In Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ (1866) unterziehe sich der Romanheld Raskolnikow einem unheimlichen Experiment: Er wolle sich selbst beweisen, dass es für ihn keine Mauern gebe, die er nicht überschreiten könnte, und dass er der Schiller'sche „höhere Mensch“ sei. Nachdem allerdings der Mörder Raskolnikow das wahre Motiv für seine Tat ausgesprochen habe, bezeichne er sich selbst als „ästhetische Laus“. Swetlana Geier erläutert, dass das Adjektiv „ästhetisch“ im Werk Dostojewskis eine Signalwirkung ausübe: Eine „ästhetische Laus“ müsse daher ein ambitioniertes, parasitäres Wesen sein – ohne den geringsten Anspruch auf Selbständigkeit.
In Dostojewskis letztem Roman „Die Brüder Karamasow“ (1880) lassen sich Anspielungen auf und Zitate aus Schillers Drama „Die Räuber“ finden und auch Schillers Ode „An die Freude“ wird bei der Beichte eines der Protagonisten herangezogen. Laut Swetlana Geier ist Iwans Poem „Der Großinquisitor“ in „Die Brüder Karamasow“ eine Variation des Themas der Rebellion gegen Gott. Es gehe hier aber nicht um eine Verneinung der Existenz Gottes, sondern Iwan nehme Anstand am unverschuldeten Leiden der Kinder. Auch in diesem Werk Dostojewskis werde der Leser folglich mit der Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel konfrontiert.