Ein Ort, ein Wort
17. November 2006
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Lesung: Uljana Wolf, Anna Katharina Hahn, Angelika Overath
Moderation: Jan Bürger
Programmtext
Drei Schriftstellerinnen der jüngeren Generation – Angelika Overath (Ernst-Willner-Preisträgerin beim Bachmann-Wettbewerb), Anna Katharina Hahn (Brentano-Preisträgerin) und Uljana Wolf (Huchel-Preisträgerin) – spüren dem Verhältnis zwischen Literatur und Topographie nach.
Weiterführende Informationen
Thomas Scheuffelen, dessen 65. Geburtstag und Abschied vom DLA mit dieser Dreierlesung gefeiert wurde, hat u. a. 1988 die Heftreihe „Spuren“ des DLA begründet.
Das Dichten entlang von Spuren und das Erzählen an und von spezifischen Orten verbindet auch die drei, in ihren Tonlagen sehr unterschiedlichen Lesungen. In Uljana Wolfs Gedichten werden die konkreten Orte zu Sprachorten, an denen sich die Spuren stumm-beredter Archivalien oder in eigener Sprache beißender, polnischer Hunde verfolgen lassen. Das Kernstück ihrer Lesung bildet ein Zyklus über die geschändete Lavinia aus Shakespeares „Titus Andronicus“, der nach ihrer Schändung Hände und Zunge abgeschnitten werden und die so kein Zeichen mehr von sich geben kann, sondern selbst zur zu lesenden Spur wird.
Anna Katharina Hahn liest aus ihrem damals im Entstehen begriffenen Roman „Kürzere Tage“ einen Teil, der in stark überarbeiteter Form zu dessen Eröffnungskapitel wurde. Man begegnet Judith, die im begehrten Stuttgarter Süden mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen lebt. Doch der „Hackstraßenmist“ bleibt an ihr haften: Als Kunstgeschichtsstudentin hatte Judith in der Hackstraße im nicht gentrifizierten Stuttgarter Osten gelebt – kettenrauchend, von Angstattacken geplagt und tablettenabhängig. Vom Erfüllungsdruck des jeweiligen Rollenschemas im Klammergriff gehalten, sehnt sie sich nach paralysierten Existenzformen. Das Stuttgart der hier gelesenen Vorstufe ist noch kartographisch konkret. In der Druckfassung legt Anna Katharina Hahn ein fiktionales Netz darüber, fiktive und tatsächliche Spuren greifen ineinander.
Ihre erste hier gelesene Erzählung widmet Angelika Overath der Handtasche, die metonymisch zunächst für die Vulva, konkret und gesellschaftlich, einsteht und schließlich zur stummen Zeugin der Ehe der eigenen Eltern in Gestalt von 32 hinterlassenen Damen- und einer Herrenhandtasche wird. Die zweite Erzählung führt nach London, dort allerdings vorbei an den klassischen Sehenswürdigkeiten und hin zu Van Goghs berühmten Stuhl aus der National Gallery. Die Leinwand des Bildes mit ihren Farben und ihrem Material wird selbst zu einem lebendigen Ort, der sich dann mehr und mehr zu einem Selbstbildnis des Malers wandelt, ohne diesen darzustellen.