Geschichte und Roman
26. August 2009
Literarisches Colloquium Berlin
Lesung: Ursula Krechel und Uwe Timm
Moderation: Tobias Lehmkuhl
Programmtext
Seit jeher hat es die Literatur als ihre Aufgabe verstanden, Archiv der vergangenen, der vergehenden Zeit zu sein. Die Stimmen der Toten zu sammeln, ihnen überhaupt eine Stimme zu geben, die Zeugnisse, die in Archiven, die Gräber, die auf Friedhöfen überdauert haben, zum Sprechen zu bringen, ist reizvoll und schwierig zugleich. Zwei wichtige Autoren der Gegenwart haben sich dieser Herausforderung gestellt, zwei Kunstwerke sind entstanden. Ursula Krechel, die in diesem Herbst mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet wird, geht in „Shanghai fern von wo“ dem Schicksal der achtzehntausend Juden nach, die sich in den dreißiger Jahren aus Deutschland nach Shanghai retten konnten. Das Buch ist ein großes Mosaik, präzise und berührend zugleich. Uwe Timm läßt den Erzähler seines Romans „Halbschatten" bei einem Gang über den Berliner Invalidenfriedhof das Grab der jungen Fliegerin Marga von Etzdorf entdecken, die sich 1933 das Leben nahm. Die Recherchen führen zu einer Geschichte von Liebe und Verrat, die als Collage sich ergänzender, einander aber auch widersprechender Stimmen meisterhaft erzählt wird.
Weiterführende Informationen
In dieser Lesung begegnen sich zwei Schriftsteller, die auf unterschiedliche Weise Strukturen der Erinnerungen in ihre literarische Arbeit einbauen. Uwe Timm beschäftigt sich mit dem Berliner Invalidenfriedhof, Ursula Krechel wird bei ihrer Recherche zu jüdischen Auswanderern, deren Ziel Shanghai war, in Wiener Archiven fündig. Tobias Lehmkuhl erklärt, dass beide Autoren mit geradezu leichter, schwereloser Stimme erzählen würden. Ursula Krechel berichtet daraufhin von der Entstehungsgeschichte ihres Romans, wie sie 1980 in Shanghai gewesen war und wie die Stadt auf sie gewirkt habe. Uwe Timm dagegen stieß per Zufall auf seinen Stoff, der von einer Pilotin handelt, die in den 30er Jahren über Palästina abstürzte. Aber es geht in dieser Lesung auch um die metaphysischen Aspekte des Finalen. Uwe Timm erklärt zum Ende der Veranstaltung hin, dass der soziale Körper, ergo der Geist des Menschen, mit dem leiblichen Tod nicht verschwinden würde; er betont, dass eben das auch die Erfahrung mit der Begegnung eines Friedhofes sei.