Lesung und Gespräch

06. April 2014
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Gespräch mit Siegfried Lenz
Begrüßung: Ulrich Raulff
Lesung: Nathalie Thiede (Sprecherin)
Moderation: Ulrich Greiner
Gesprächspartner: Ulrich Greiner, Ulrich von Bülow

Sobald alle Rechtsinhaber zugestimmt haben, wird diese Veranstaltung vollständig nachzuhören sein.

Programmtext

Deutschstunde mit nur einem Autor? Siegfried Lenz hält seit mehr als sechzig Jahren seine Leser in Atem. In Marbach nimmt er sie mit auf seine persönliche Passage durch ein Werk, das die deutsche Literatur bis heute prägt.

Weiterführende Informationen

Die Romane, Erzählungen, Novellen, Essays, Theaterstücke und Hörspiele von Siegfried Lenz zeugen von einer sechs Jahrzehnte andauernden produktiven Schaffensphase. Er gilt als einer der bedeutendsten und meistgelesenen Schriftsteller der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Zu Beginn der Matinee am 6. April 2014 im Deutschen Literaturarchiv Marbach gibt Ulrich Raulff freudig bekannt, dass der inzwischen 88-jährige Siegfried Lenz den Entschluss gefasst habe, sein persönliches Archiv nach Marbach zu geben. Die Stuttgarter Schauspielerin Nathalie Thiede liest aus dem Werk des berühmten Autors vor. Exemplarisch ausgewählt wurden hierfür die Erzählung "Die Flut ist pünktlich" (1953), die Novelle "Schweigeminute" (2008) und natürlich der Roman "Deutschstunde" (1986), der den Ruhm von Siegfried Lenz weltweit begründete.

Das Meer ist im literarischen Gesamtwerk von Siegfried Lenz allgegenwärtig: der weite, graue Horizont, der rhythmische Wechsel von Ebbe und Flut, das sandige oder schlammige Watt mit Plattfischen, Würmern, Muscheln, Schnecken, Krebsen etc. Vor dem atmosphärisch verdichteten Hintergrund einer Küstenlandschaft spielen sich stets menschliche Dramen ab. Auf die Frage, warum er "unglückliche Liebesgeschichten" wie z. B. "Die Flut ist pünktlich" erzähle, antwortet Siegfried Lenz, dass er die Handlung dieser Geschichte weder für schlimm noch für böse halte. Es handle sich hierbei um ein Angebot an den Leser, eigene Erfahrungen mit denjenigen der Hauptfiguren zu vergleichen. Es gehe auch um Orientierung, darum, ob das Erzählte als vergleichbare Erfahrung glaubhaft und akzeptabel sei, und um die Möglichkeit der Abstimmung mit anderen. Literatur mache das enorme Angebot, das Leben anderer mit dem eigenen zu vergleichen und entsprechend seine Schlüsse daraus zu ziehen. Siegfried Lenz betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass der Leser die Freiheit der Selbstauslegung eines Textes besitze. Die Kunst des Schreibens bestehe u. a. im Weglassen und sei für den interessierten Leser eine Einladung ins Ungefähre. Der Leser sei in dieser Hinsicht ein Partner, der das, was der Schriftsteller anbiete, noch einmal schreibe bzw. ein weiteres Mal skeptisch oder zustimmend hervorbringe.
Auffallend an den Geschichten von Siegfried Lenz ist, dass viele von ihnen an der Nord- oder Ostsee und alle gewissermaßen am Rand und eben nicht in der Stadt spielen. Der Autor erklärt, was ihn an der See so anziehe: das exemplarische Leben und die lakonische Art der Widerlegung, die sich das Meer vorbehalten habe – als eine Macht, ein Anderes, eine Umgebung, mit der bzw. mit dem man nicht gerechnet habe. Zudem gebe sich am Rand etwas zu erkennen, das im Tumult der Großstadt so nicht sichtbar werden könne.
Siegfried Lenz berichtet, dass er sich in den Anfängen seiner schriftstellerischen Bemühungen nicht mit den von ihm bewunderten Vorbildern William Faulkner und Ernest Hemingway habe vergleichen wollen. Er sei aus Selbstneugierde zum Schreiben von Erzählungen gekommen. Ihn habe dabei die Vorwegnahme eines denkbaren bzw. erfundenen Schicksals interessiert. Angesichts der detailreichen (Natur-)Schilderungen in den Texten von Siegfried Lenz verwundert es nicht, dass er die Sachkundigkeit als Voraussetzung für das eigene Schreiben anführt.
Bekanntlich war der expressionistische Maler Emil Nolde das reale Vorbild für die Hauptfigur Max Ludwig Nansen im Roman "Deutschstunde". Die Nolde-Retrospektive im Frankfurter Städel Museum (15. März bis 15. Juni 2014) belegte, dass der "entartete Künstler" mit Mal- bzw. Berufsverbot ein glühender Verehrer Adolf Hitlers und ein überzeugter Nationalsozialist war und dass sich Emil Nolde später selbst zum Widerständler stilisierte. Auf diesen Aspekt in der aktuellen Diskussion (auch die Rezeption des Romans "Deutschstunde" betreffend) angesprochen, stellt Siegfried Lenz fest, dass Emil Nolde ein großer, bedeutender Maler, aber auch ein "problematischer" Charakter gewesen sei, und dass er sich durchaus "katastrophal" verhalten habe, indem er sich für seinen "Irrtum" nie entschuldigt habe.

Personen auf dem Podium