Literarischer Club

21. September 1999
Literarisches Colloquium Berlin

Gesprächsteilnehmer: Martin Lüdke, Beate Pinkerneil, Mathias Schreiber und Gustav Seibt

Weiterführende Information

Dass in Günter Grass' Buch "Mein Jahrhundert" öfters Szenen beschrieben werden, in denen Figuren mit Holzlöffeln Suppe essen, scheint den Kritiker vom "Spiegel", Mathias Schreiber, zu stören - wie er auch in zahlreichen Passagen einen "erschreckend schwachen Stil" auszumachen meint. Gustav Seibt findet das Konzept von Grass' Buch, welches die Idee von Thomas Mann aufgreift,  als repräsentative Stimme einer ganzen Nation zu sprechen (und zu schreiben), problematisch.
Die Diskussion über Marcel Reich-Ranickis sehr erfolgreiche Autobiografie "Mein Leben" hat zwei Schwerpunkte: Zum einen findet man den Bericht über das Warschauer Ghetto sehr bewegend, zum anderen stellt man fest, dass Reich-Ranicki "literarische Fragen stets als Machtfragen behandelt" - wie er "es im Stalinismus gelernt hat" (so Seibt). Und dass sein Literaturbild sich aus dem "bürgerlichen Kanonverständnis von 1930" ableitet, was heißt, dass er den "Realismus des 19. Jahrhunderts von Gottfried Keller bis Fontane" hochhält; das sei eine Auffassung, die "er bis heute nicht mehr abgestreift" hätte - so schließt Gustav Seibt seine Ausführungen.
Arnold Stadlers Buch "Ein wunderbarer Schrotthändler" wird anschließend ausgiebig gelobt und auch Erpenbecks Erstling "Geschichten vom alten Kind" löst begeisterte Statements aus. Mathias Schreiber fragt sich jedoch, ob sich eine solche "literarische Kraft" so fortsetzen kann.

Programmtext

Vier Neuerscheinungen im Urteil der Literaturkritik: Günter Grass „Mein Jahrhundert“ (Steidl Verlag), Marcel Reich-Ranicki „Mein Leben“ (DVA), Imre Kertész „Fiasko“, aus dem Ungarischen von György Buda und Agnes Relle (Rowohlt Berlin) und Arnold Stadler „Ein hinreissender Schrotthändler“ (DuMont). Die Diskussionsteilnehmer: Martin Lüdke (SWR, Mainz), Mathias Schreiber (Der Spiegel, Hamburg), Gustav Seibt (Berliner Zeitung) und die Gesprächsleiterin Beate Pinkerneil (ZDF, Mainz).

Anmerkung: Statt (wie angekündigt) diskutierten die Literaturkritiker nicht über Imre Kertész' "Fiasko" sondern über das Romandebüt von Jenny Erpenbeck. Die "Geschichte vom alten Kind" erschien bei Eichborn Berlin.

Personen auf dem Podium