Studio LCB mit Ingo Schulze

26. Juli 2005
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Ingo Schulze
Gesprächspartner: Silvia Bovenschen und Lutz Seiler
Moderation: Maike Albath

Programmtext

Sieben Jahre lang hat Ingo Schulze seine Leser auf die Folter gespannt - so lange mußten sie auf einen neuen Roman des international erfolgreichen Verfassers von "33 Augenblicke des Glücks" und "Simple Storys" warten. Ein 800seitiger Briefroman mit dem Titel "Neue Leben" (Berlin Verlag) ist jetzt angekündigt: als Absender tritt ein gewisser Enrico Türmer in Erscheinung, und seine Korrespondenz, die zwischen Januar und Juli 1990 entsteht und mit Fußnoten kommentiert wird, richtet sich an drei verschiedene Adressaten. Schulerfahrungen, zerbrochene Freundschaften und gescheiterte schriftstellerische Ambitionen sind ebenso Gegenstand der Briefe wie die Leipziger Montagsdemonstrationen und erste Erfahrungen in der Wendezeit. "Aber man muß jetzt das Mittelmeer sehen" schreibt Enrico Türmer an seine Freundin Nicoletta und bringt damit die ostdeutsche Sehnsucht nach dem Süden auf den Punkt. In "33 Augenblicke des Glücks" von 1995 hatte Ingo Schulze zum ersten Mal eindringlich vorgeführt, was es mit den bis dahin unbekannten Sphären des Ostens auf sich hatte. In phantastischen Prosaschüben verbanden sich Leningrad und Petersburg, das Archaische und die Postmoderne. "Simple Storys" (1998) nahm mit schonungsloser Genauigkeit die Veränderungen in den sogenannten Neuen Bundesländern in den Blick. Die Stadt Altenburg wurde zum Kaleidoskop einer neuen Welt ohne Traditionen, in der nichts als die unmittelbare Gegenwart herrschte. Mit seinen "short cuts", den harten Schnitten, knappen Sätzen und dem Verzicht auf Schilderungen des Innenlebens seiner Figuren führte Ingo Schulze Erzähltraditionen US-amerikanischer Schriftsteller fort. In seinem neuen Roman, in dem er auch ästhetisch andere Wege geht, erwartet uns ein breit angelegtes Panorama des Jahres 1989 und seiner Folgen. Über historische Umwälzungen und ihre literarischen Folgen diskutiert Ingo Schulze mit der Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Silvia Bovenschen und dem Schriftsteller Lutz Seiler.

 

Weiterführende Informationen

Zwischen der Publikation von "Simple Storys" und der Veröffentlichung von "Neue Leben" lagen 7 Jahre. Er habe eigentlich "kein so dickes Buch schreiben" wollen, erzählt der Autor auch dann gleich zu Beginn, sondern eher an eine Novelle gedacht. Ingo Schulze erzählt, warum er so lange für diese Arbeit gebraucht hat, wie aus einer Novelle ein episches Werk wurde. Der Roman behandelt ja das Leben junger DDR-Bürger direkt nach der Wende. Wie haben diese die Demokratie mit ihren freien und unberechenbaren Marktkräften erfahren? Aber nicht nur über die gesellschaftspolitischen Hintergründe unterhält man sich, ebenfalls die eigenwillige ästhetische Gestaltung von Schulzes Roman kommt zur Sprache. Weswegen hat er sich bei seiner Darstellung eines Wende-Schicksals überhaupt für das Format eines Briefromans entschieden - was ja angesichts heutiger Kommunikationstechniken antagonistisch wirken muss. Über die zahlreichen Ebenen des etwa 850 Seiten langen Werkes diskutiert man ebenso wie über den mephistotelischen Charakter mancher Figuren. "Der Westen", so behauptet einmal der Schriftsteller, "bedeutete für uns auch eine kulinarische Entdeckung." Und dieses Kuriosum erläutert Ingo Schulze ebenfalls.

Personen auf dem Podium