„Tallhover“ und Ungedrucktes

25. Februar 1987
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Lesung: Hans Joachim Schädlich

Weiterführende Informationen

Hans Joachim Schädlich liest in Marbach aus seinem 1986 erschienenen Roman „Tallhover“, der in insgesamt 82 Abschnitte untergliedert ist. Der Autor beginnt mit folgenden einleitenden Erläuterungen: „Tallhover“ sei der Name der Hauptfigur und der Roman solle die fiktive Biographie eines Mannes sein, der in den Diensten der Politischen Polizei stehe. Tallhover arbeite für die Politische Polizei in Deutschland unter mehreren Regierungen, in verschiedenen Ordnungen, und zwar von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ihm sei die Utopie von einer Art „reinem, unbedingtem, das heißt perfektem, Staat“ zugewiesen. Und die Politische Polizei hätte, nach Tallhovers Ansicht, bei der Verwirklichung dieser Utopie eine Hauptrolle zu spielen. Demgemäß bestehe das praktische Lebensziel Tallhovers darin, die Arbeit der Sicherheits- und Geheimpolizei bei der Observation und Verfolgung von Leuten, die anders denken als die jeweilige Regierung (gemeint sind hier: preußisches Königtum, Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und SED-Diktatur in der DDR), zu vervollkommnen. Das Buch enthalte keine Wertung dieser Idealvorstellung eines Herrn Tallhover vom Staat, keine Wertung der Figur Tallhover oder seiner praktischen Lebensziele. Dies zu bewerten, bleibe vollkommen dem Hörer oder Leser überlassen. Die deutschen Regierungen würden im Verlauf des Romans also wechseln, aber Tallhovers Tätigkeit, nämlich die Observation und Verfolgung Andersdenkender, bleibe immer gleich. Das laut Hans Joachim Schädlich „bemerkenswert lange Leben“ der titelgebenden Hauptfigur verweist eben auf diese politische Kontinuität. Interessanterweise hat der Autor versucht, den Sprachgestus im Roman den sich ändernden Zeiten anzupassen. Hans Joachim Schädlich erklärt zudem, dass Tallhover von einer Art moralischer Indifferenz geprägt sei: Ihn interessiere niemals die moralisch-ethische oder politische Begründung einer Ordnung oder eines Systems, ihn interessiere nur die Perfektionierung seiner Arbeit. Durch die nüchterne Protokollsprache, die personale Erzählperspektive und die berichteten exemplarischen Ereignisse, die von Tallhovers Brutalität und Machtstreben zeugen, gelingt es dem Autor, auf Distanz zur Hauptfigur zu gehen (und auch zu bleiben), die das Idealbild eines Spitzels verkörpert.

Anschließend liest Hans Joachim Schädlich einen damals noch unveröffentlichten Text vor, den er 1986 geschrieben hatte und der von Christlob Mylius, einem Naturforscher und Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert, handelt. Kurz zum Inhalt der Erzählung: Christlob Mylius (1722–1754) räsoniert 232 Jahre nach seinem Tod über sein Leben und berichtet ausführlich von einem Streit, der in den 1750er Jahren zwischen dem Präsidenten der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Pierre Louis Moreau de Maupertuis, und dem Schweizer Mathematiker und auswärtigen Mitglied der Akademie, Samuel König, ausgebrochen war und in den er sich damals verwickelt hatte. Maupertuis habe seine Stellung dazu missbraucht, „die freie Wissenschaft zu unterdrücken und ehrliche Männer zu verfolgen, deren Verbrechen einzig darin bestand, anderer Meinung zu sein als [er]“, so Mylius. Voltaire, bekanntermaßen einer der maßgeblichen Vordenker der Aufklärung, mischte sich in den Akademiestreit ein und ergriff Partei „für die zu Unrecht Verfolgten“, wodurch es zum offenen Bruch zwischen ihm und Friedrich II. von Preußen kam.
Hans Joachim Schädlich, der von 1959 bis 1976 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin war, lässt den verstorbenen Mylius im Jahr 1986 nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Gegenwart blicken und folgenden Missstand anprangern: „Reichlich zweihundert Jahre nach meiner Zeit hat die Akademie der Wissenschaften nicht gesäumt, angesehene Mitglieder, welche sich der Vorherrschaft der vorgesetzten Philosophie widersetzten und welche sich das Recht auf freien Diskurs nicht nehmen lassen wollten, aus der Akademie zu stoßen.“
Der damals noch ungedruckte Text über Christlob Mylius wurde erstmals im Mai 1987 unter dem Titel „Mylius, gesprächshalber“ im Sammelband „Begegnungen – Konfrontationen. Berliner Autoren über historische Schriftsteller ihrer Stadt“ (herausgegeben von Ulrich Janetzki) veröffentlicht.

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