Über den Anfang der Geschichte
11. Oktober 2005
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Vortrag: Kurt Flasch
Moderation: Ulrich Raulff
Programmtext
Kurt Flasch, weltweit renommierter Kenner der Philosophie des Mittelalters, ist bekannt für seine ebenso klugen wie temperamentvollen Zugriffe auf Themen jenseits seines Fachgebiets: Von Adam und Eva über die Philosophen des Ersten Weltkriegs zurück zum Paradies.
Weiterführende Informationen
Zwei Denker und der Sündenfall: Kurt Flasch spricht in seinem Vortrag über Schillers wenig beachtete Schrift „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“ (ersch. 1790). Darin denkt Schiller über den Anfang der Geschichte nach, den er in der Vertreibung aus dem Paradies sieht. Sein Ausgangspunkt also ist ganz in der Tradition christlicher Eschatologie begründet und Kurt Flasch lässt diese Gelegenheit natürlich nicht aus, um eine kurze Skizze der Deutungstradition der ersten Genesis-Kapitel seit Augustinus zu liefern. Sein Augenmerk legt er dabei auf die Frage nach wörtlichem und allegorischem Sinn des Sündenfalls. Paradies und Vertreibung bezeichnet er als „Kampffeld“ theologischer und philosophischer Positionen. Jener Kampf habe Ende des 18. Jahrhunderts noch einmal an Dynamik gewonnen, als die historisch-kritische Bibelexegese Breitenwirkung erlangte.
Schiller legt keine historisch-kritische Bibelstudie vor, sondern allegorisiert das Geschehen um Adam und Eva vernunftgeschichtlich; er sieht im Sündenfall nur „vermeintlichen Ungehorsam“, bezeichnet ihn als „die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte“, sie erst habe dem Menschen Freiheit gegeben – und der idealistische Denker Schiller ist mit dem göttlichen Geschichtsplan versöhnt. Immanuel Kant, dessen Schrift „Muthmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte“ von 1786 Flasch den Schiller'schen Gedanken kontrastierend gegenüberstellt, entwerfe eine düsterere Vision: Der Sündenfall ist die Entlastung Gottes von den Grausamkeiten der geschichtlichen Welt – Schuld trägt allein der vernunftbegabte Mensch. Kant akzeptiert allerdings nicht die Erbsünde, entscheidend ist für ihn, dass der Mensch selbstbestimmt schuldig und frei werden kann. Für Schiller aber sei der Mensch, so folgert Kurt Flasch, zu edel selbst für das Paradies gewesen. Seine Freiheit verlangt nach autonomer Vervollkommnung, nicht nach dem Verbleib im paternalistischen Garten Eden.