Warum wir Klassiker brauchen
31. Mai 2010
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Vortrag: Hans Ulrich Gumbrecht
Einführung: Ulrich Raulff
Moderation: Marcel Lepper
Programmtext
Ist die Rede vom „großen Text“ bloße Bildungsideologie? Hans Ulrich Gumbrecht begründet, warum es sich lohnt, Aristoteles, Nietzsche und Heidegger zu lesen.
Weiterführende Informationen
Hans Ulrich Gumbrecht diagnostiziert einen Wandel im Umgang mit den Klassikern, wobei er diesen Begriff international versteht und alle als klassisch bestimmten Autoren und Werke mit einschließt: Der antikanonische Gestus der 60er und 70er Jahre sei abgelöst worden durch einen bestimmten „Vertrauensvorschuss“, mit dem heute klassische Autoren wieder gelesen werden; man gehe davon aus, dass sie auf Fragen der heutigen Zeit relevante, den einzelnen betreffende Antworten besäßen. Zudem sei die Pflege eines wie auch immer verstandenen klassischen Erbes in den letzten Jahren wichtiger geworden, Neueditionen, Neuübersetzungen, Briefausgaben und Biographien sprächen dafür. Der Grund für diese Verschiebung im Verhältnis zu den Klassikern sei in einer Veränderung gesellschaftlich konstruierter Zeitlichkeit, sei also in der Veränderung des Chronotops, wie es Gumbrecht nennt, zu suchen.
Wurde seit dem 19. Jahrhundert die Zeit als historische Zeit zum Agenten jeglicher Veränderung, dem nicht zu widerstehen sei, so musste sich dort zwangsläufig ein Begriff von Klassiker und klassischer Literatur bilden, der das Paradox eines zeitlos gültigen und aktuellen Werkes im Wandel der historischen Epochen etablieren konnte. Mit der Krise jenes „historistischen Chronotops“ seit den 70er Jahren wurde diese Verabredung sukzessive herausgefordert. Die großen postmodernen Themen der Pluralität unterschiedlicher historischer Narrative, der potenziellen Unendlichkeit der Repräsentation und schließlich der diskursiven Macht hätten auch den Autoritätsanspruch der Klassiker ins Wanken gebracht. Die Funktion der Klassiker wurde wahrgenommen als eine autoritäre Verneinung von Pluralität. Stattdessen sei heute die Gegenwart „breiter“, das Verhältnis zu Autoritäten entspannter geworden. Gleichwohl gebe es heute wieder eine gewisse Sehnsucht nach Autorität und, auf dem Feld der Literatur, nach kanonischer Gewissheit. Dabei gelte es aber nicht mehr, die Vergangenheit zukunftsgläubig hinter sich zu lassen und nur jenes mitzunehmen, dem die Autorität der Gültigkeit zugesprochen worden sei. Vielmehr habe die Vergangenheit heute einen viel größeren Einfluss auf die Gegenwart, man entkomme ihr nicht mehr. Was vergangen ist, so lässt sich vielleicht sagen, besitzt heute schon einen Wert an sich. Dies liege, so Gumbrecht abschließend, auch am Verlust eines Vertrauens in Zukunft: Diese sei kein Versprechen mehr, sondern eher eine Bedrohung.