Bücher, die bleiben - Die Übersetzer-Kandidatinnen für den Preis der Leipziger Buchmesse 2016

08. März 2016
Literarisches Colloquium Berlin

In Lesung und Gespräch: Ursula Keller, Kirsten Brandt, Claudia Hamm und Brigitte Döbert
Moderation: Jürgen Jakob Becker

Programmtext

Reich ist die Auswahl an bemerkenswerten Übersetzungen, die auf dem deutschen Buchmarkt in den letzten Monaten erschienen sind. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse hat fünf Kandidaten für den Übersetzerpreis nominert, vier davon stellen wir an diesem Abend vor.

„Eine Straße in Moskau” (Die Andere Bibliothek) ist der erste Roman des russischen Realisten Michail Ossorgin, der im Jahr 1928 in der Pariser Emigration erschien und nun von Ursula Keller neu übersetzt wurde. Er schildert die zerstörerische Gewalt von Krieg und Revolution aus der Sicht der Bewohner einer kleinen Moskauer Straße. Wie durch ein Brennglas werden die Ereignisse im Mikrokosmos eines Professorenhaushalts um den Ornithologen Iwan Alexandrowitsch und seine Enkelin »Tanjuscha« betrachtet und zu einem Mosaik aus 86 Bildern und Szenen meisterhaft montiert. Eine großartige Wiederentdeckung: Der Roman über Russland zwischen 1914 und 1920, zwischen Weltkrieg, Revolution, Terror und Bürgerkrieg, farbig und nuanciert ins Deutsche übersetzt.

Auch Kirsten Brandt hat den deutschen Lesern ein bedeutendes Werk der Moderne nach mehr als 50 Jahren zugänglich gemacht: Joan Sales' „Flüchtiger Glanz” (Hanser), den großen Roman über den Spanischen Bürgerkrieg. Ein katalanischer Briefroman, der Antworten sucht auf die Fragen nach dem Ursprung des Bösen, nach Gott und den Möglichkeiten der Liebe – und der in Kirsten Brandts lebendiger Übertragung abwechselnd sehnsüchtig, wild, bitter oder derb die Grauzone des Spanischen Bürgerkriegs ausleuchtet.

Um die großen Fragen geht es auch bei Emmanuel Carrère: Was bedeutet uns der Glaube, was uns persönlich und was unserer Gesellschaft? Carrère vertieft sich in seinem Roman „Das Reich Gottes” (Matthes & Seitz Berlin) in die Anfänge des Christentums und in seine eigene Lebens- und Glaubensgeschichte. Die radikal persönliche Auseinandersetzung des Pariser Intellektuellen mit dem Christentum und seinen Quellen macht die Übersetzerin Claudia Hamm als fesselnde, elegante Erzählung zugänglich.

Was für Irland Ulysses, ist für Serbien „Die Tutoren” (Schöffling & Co): ein avantgardistisches Meisterwerk voller Wortspiele und Stilbrüche, ein experimentelles Labor der Sprache – und dabei hochkomisch. Bora Ćosić spannt in seiner weit ausholenden Parodie einer Familienchronik den Bogen über 150 Jahre europäische Geschichte. An eine Übertragung dieses opus magnum hat sich lange niemand herangetraut. Brigitte Döbert ist das Wagnis nun eingegangen und erschließt den Lesern damit einen der großen mitteleuropäischen Autoren der Gegenwart neu. Mit überbordendem Wortwitz ist es ihr gelungen, ein Kompendium balkanischer Verrücktheiten nachzubilden.

An diesem Abend leider verhindert, aber nicht weniger hervorzuheben ist schließlich Frank Heibert und seine deutsche Fassung von Richard Fords jüngstem Buch „Frank” (Hanser Berlin), mit dem der US-amerikanische Autor den Schlussstein seiner meisterhaften Tetralogie über den inzwischen 68-jährigen Helden Frank Bascombe gesetzt hat. Frank Heibert zieht alle Register, um Fords lakonischen Sound, den Zynismus seines unverwechselbaren Protagonisten mal ironisch-lässig, mal ätzend, mal hochgestochen ins Deutsche zu bringen.

Weiterführende Informationen

Der Preis der Leipziger Buchmesse 2016 in der Kategorie Übersetzung wurde Brigitte Döbert für die Übersetzung aus dem Serbischen von Bora Ćosićs "Die Tutoren" zugesprochen.

Personen auf dem Podium