Über das Projekt

Auf Initiative des Literarischen Colloquiums Berlins fand am 11. und 12. Juni 2022 ein Workshop-Wochenende mit acht literaturbegeisterten Schüler·innen des Amos-Comenius-Gymnasiums in Bad Godesberg statt. Unter der Leitung von Kirsten Fuchs und Yannic Han Biao Federer haben sich Luisa, Nepomuk, Frieder, Henriette, Johanna, Paul, Matthias und

Helena gemeinsam in die Tiefen des Online-Tonarchivs Dichterlesen.net gewagt: Sie diskutierten über die Funktion von Archiven, die Bedeutung von Lesungen, haben Literaturveranstaltungen nachgehört und das Tonarchiv nach eigenen Suchaufträgen auf den Kopf gestellt. Inspiriert von den Fundstücken brachten sie ihre eigenen Gedanken zu Papier und ins Mikro: Entstanden sind viele kreative, spannende, kritische und humorvolle Beiträge in Form von Essays, Lyrik und Prosa, die unter dem Motto „Uns gehört die Zukunft“ in der Rubrik „Output“ dieses Hörraums präsentiert werden. Während die Gestaltung des „Outputs“ auf den Ideen der Jugendlichen beruht, kommen in der Rubrik „Making-of“ die Autor∙innen Kirsten Fuchs und Yannic Han Biao Federer zu Wort und geben Einblick in ihre Herangehensweise an die Arbeit mit den Jugendlichen und die Konzeption des Workshops. Anregungen und Inspirationen für einen Einsatz des Materials in Schulen und kulturellen Bildungseinrichtungen bietet das Tool „Do it yourself“ sowie der begleitende Podcast.

Output

O-Ton Helena:
„Alice im Wunderland“

O-Ton Matthias:
„Rabbithole“

Queersein & Normalität

Henriette

Weitere Beiträge von Henriette (14 Jahre)

Vorstellungsrunde

„Lösung des Problems oder: Problem der Lösung?“

Kabinett der Kuriositäten

Matthias

Weitere Beiträge von Matthias (14 Jahre)

Vorstellungsrunde

„Perlen“

O-Ton Henriette:
„Zukunft“

Fridays for Future

Johanna

Weitere Beiträge von Johanna (15 Jahre)

Vorstellungsrunde

„Bibliothek“

Magischer Realismus

Helena

Weitere Beiträge von Helena (15 Jahre)

Vorstellungsrunde

Digitalisierung

Paul

Weitere Beiträge von Paul (14 Jahre)

Vorstellungsrunde

„Hörspiele“

O-Ton Paul:
„Digitalisierung“

O-Ton Henriette:
„Suchen, um was zu finden“

Künstliche Intelligenz

Frieder

Weitere Beiträge von Frieder (13 Jahre)

Vorstellungsrunde

„Der Kampf gegen das Vergessen“

„Ich brauche mehr Platz“

O-Ton Helena:
„Magnete“

O-Ton Helena:
„Schlagwortsuche“

Science Fiction

Nepomuk

Weitere Beiträge von Nepomuk (14 Jahre)

Vorstellungsrunde

„Seid ihr bereit?“

Feminismus

Luisa

Weitere Beiträge von Luisa (15 Jahre)

Vorstellungsrunde

„Was ist Zukunft?“

Stöbern

Hier könnt ihr selbst aktiv werden und im Dichterlesen-Tonarchiv nach Audio-Beiträgen suchen, die euch ansprechen. Falls ihr nicht wisst, wo ihr anfangen sollt, haben wir hier ein paar Vorschläge gesammelt, die euch zum Stöbern inspirieren könnten.

Probiert es doch einfach mal aus und vielleicht ist etwas Interessantes dabei, das euch sogar selbst zum Schreiben motiviert…? Eines ist sicher: Ihr landet garantiert woanders, als ihr es erwartet habt.
BEISPIELSWEISE
Finde eine Lesung von einer·m Autor·in mit deinem Vornamen:

Making-Of

YANNIC HAN BIAO FEDERER

Was ist eigentlich ein Archiv? Ab welchem Moment, auf welche Weise verwandelt sich eine bloße, womöglich zufällige Ansammlung von Dingen zu etwas, das man Archiv nennt? Wie viele Dinge braucht man für so ein Archiv, und in welcher Beziehung müssen diese Dinge zueinander stehen, wenn sie gemeinsam ein Archiv sein wollen? Was macht man mit einem Archiv, wozu ist es da, was könnten wir von einem Archiv wollen, oder will das Archiv etwas von uns?

All das fragten wir uns, hatten leise Vermutungen, wussten es aber auch nicht so genau. Und erst recht wussten wir nicht, was junge Erwachsene von einem Archiv wollen könnten, in dem Tonaufnahmen von Menschen gesammelt wurden, die aus ihren Büchern vorlasen, und anderen Menschen, die sich das dann anhörten, deren Stühle knarzten, die manchmal husteten oder sich räusperten, denen ein Glas umfiel und die dann ohje riefen, hörbar, für alle Zeiten hörbar in diesem Archiv, das eigentlich gar kein Regierungs- oder Amtsgebäude ist, was, so steht es jedenfalls im Duden, die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Archiv ist, archeion oder so, sondern einfach eine Webseite, oder, wenn man so will, ein paar Computer in einem Keller in einem Haus an einem See in Berlin.

Vermutlich waren wir anfangs etwas ratlos, Kirsten und ich, guckten uns ratlos an aus unseren Zoom-Kacheln, weil wir uns anfangs hauptsächlich über Zoom sprachen, sonst hätten wir uns in einem Café ratlos ansehen können oder in einem nüchternen Besprechungsraum, hätten dort für einen Moment ganz still sein können, um diesem Gefühl der Ratlosigkeit nachspüren zu können, das uns überfiel, wenn wir uns diese Fragen stellten zum Archiv, die wir nicht beantworten konnten oder nur versuchsweise, aber ich war in Köln und Kirsten in Berlin, also waren wir eben auf Zoom ganz still, für einen Moment, nur der Vogel tschilpte eifrig, den ich noch nie gesehen hatte, aber immer hörte, wenn wir telefonierten, er saß irgendwo bei Kirsten, hüpfte wohl aufgeregt umher, weil er auch nicht wusste, wie das ist mit dem Archiv im Allgemeinen und dem des Literarischen Colloquiums im Besonderen, und wenn der Vogel zu eifrig tschilpte und zu laut, rief Kirsten, boah, Vogel! Und der Vogel war dann ruhig. Jedenfalls vertagten wir uns und unseren Zoom-Call, und ich rannte in den Wald, was ich immer tue, wenn ich nicht weiterweiß, und wie immer war ich überrascht, wie viele kleine Trampelpfade es gab, die links und rechts vom Weg abgingen, und immer wieder sah ich dort neonfarbene Laufshirts hinter Bäumen aufblitzen und wieder verschwinden, oder musste ausweichen, weil plötzlich eine Gruppe rüstiger Seniorinnen aus dem Unterholz brach, energisch ihre Stöcke in den Boden rammend, und ich wunderte mich, wohin diese teils verwinkelten, teils kaum einsehbaren Pfade führten, dachte, vielleicht ist es eine Abkürzung, ich peilte die Himmelsrichtungen, orientierte mich am Sonnenstand, am Moosbewuchs, und verlief mich sofort. Aber es war sehr nett, ich entdeckte eine Bahntrasse und einen kleinen Fluss und eine Brücke und eine Lichtung und einmal schaute mich ein Reh an und lief panisch vor mir weg, Haken schlagend, und dann war ich in Leverkusen.

Und plötzlich wusste ich, wie das ist mit dem Archiv, und wollte Kirsten anrufen, was aber nicht ging, weil Kirsten schon mich anrief, und ich nahm ab, schwitzend im Wald stehend, oder am Waldrand, dem Reh nachsehend, oder war’s vielleicht ein Hirsch? Jedenfalls wusste ich schon, dass sie es auch wusste, vielleicht hatte sie sich noch einmal mit dem Vogel unterhalten oder sie war auch im Wald gewesen, das kann ich heute nicht mehr sagen, aber wir riefen, ich hab’s, ich hab’s, und fielen uns ins Wort und redeten durcheinander und sagten dann aber sehr entschieden: Müssen die jungen Leute selber wissen!

Und natürlich ist das alles gar nicht so passiert, sondern ganz anders, aber das tut nichts zur Sache, weil es eben schöner ist, es so zu erzählen, als es anders zu erzählen, und was aber tatsächlich stimmt, ist, dass wir uns vornahmen, kein Thema vorzugeben, das die Jugendlichen wichtig finden sollten, weil wir es wichtig fanden, um dann das Archiv auf dieses Thema hin zu durchforsten, wie wir es vorab durchforstet hätten, um dann nur das zu entdecken, was wir auch schon entdeckt hätten. Sondern dass sie selbst entscheiden sollten, welches Thema sie interessierte, oder ob sie überhaupt ein Thema interessierte, weil vielleicht wollten sie ja alphabetisch vorgehen oder nach dem Zufallsprinzip oder chronologisch oder vielleicht wollten sie in Primzahlabständen in die Tonaufnahmen greifen oder nur nach solchen mit Tippfehlern im Beschreibungstext. Überhaupt, dachten wir, ist es vielleicht gar nicht so zielführend, immer nur zu finden, was man auch gesucht hat, vielleicht ist es ja spannend, mit dem Finden anzufangen, bevor man sich ans Suchen setzt, oder zumindest so frei zu suchen, dass man eigentlich nicht genau sagen kann, warum man sucht, was man sucht, und deshalb sehr wahrscheinlich überrascht sein wird, von dem, was man findet, wobei es gar nicht so leicht ist, überrascht zu sein, wenn man es darauf anlegt, egal, wir baten jedenfalls Henriette und Helena und Nepomuk und Paul und Johanna und Matthias und Luisa und Frieder, als wir endlich in Bad Godesberg saßen, am großzügigen Konferenztisch, an dem sonst die Lehrerinnen und Lehrer ihr Käsebrot aßen, die jetzt aber draußen bleiben mussten und sich anderswo auf den Pulli krümelten, wir baten sie also, sich ganz sinnfreie, zufällige, spielerische oder sonstwie spannende Suchaufträge zu notieren, etwa das Archiv nach Tischen zu durchsuchen und nach Gabeln oder nach Gummienten und Magneten, oder nachzusehen, was das Archiv wohl unter dem Geburtsjahr der Eltern hinterlegt hatte, oder unter Umweltschutz, oder Hemingway. Und dann sagten wir, gebt eure Suchaufträge doch einmal nach links weiter, und wenn ihr etwas gefunden habt, das ihr interessant findet, schreibt etwas darüber, wir nehmen das dann auf und legen es dazu, ins Archiv.

Ab da lief es eigentlich ganz von selbst, was großartig war, weil jemand einen Kuchen gebacken hatte, dem wir uns dann zuwenden konnten, und Kaffee gab es auch und Kekse, hin und wieder setzten wir uns hin und legten das Aufnahmegerät auf den Tisch und hörten zu, wie Johanna ihre statistischen Auswertungen zu Tischen, Gabeln und Messern vortrug, oder wie Matthias einen Brief von Hilde Domin entdeckte, den er berührend und großartig fand, und das nur, weil sein Vater zufällig in dem Jahr geboren wurde, in dem Hilde Domin ihn vorlas, in einem Haus an einem See in Berlin, und einmal wagten wir zu fragen, ob sie sich denn nun eine neue Runde von zufälligen und spielerischen Arbeitsaufträgen erteilen wollten, oder ob sich eine bestimmte Suchmethode herauskristallisiert hätte, der sie folgen wollten, oder ob es doch ein Thema gab, mit dem sie sich beschäftigen wollten. Und es gab ein Thema, zwei Themen, eigentlich viele Hauptthemen und mögliche Ober- und Unterthemen, eine leidenschaftliche Diskussion brach los, ob man sich lieber intensiv den 90er Jahren zuwenden wollte, als transformative Phase der Weltgeschichte, aus der heraus erst der heutige Stand der Dinge zu verstehen wäre, oder ob es doch eher um die Zukunft gehen müsste, weil es gar keinen Stand der Dinge gebe, eher eine Dynamik der Dinge, die in die Zukunft strebe, und so fort. Irgendwann saßen wir da, jemand musste auf den Bus, jemand anderes auch, und wir anderen schwiegen, ein Vogel tschilpte, instinktiv sah ich zu Kirsten, aber sie saß ja hier in Bad Godesberg und ihr Vogel in Berlin, es musste ein anderer Vogel gewesen sein, am Fenster, nehme ich an, aber wer weiß. Jedenfalls schlugen wir vor, uns zu vertagen, weil wir ja gute Erfahrung gemacht hatten mit dem Vertagen, und alle nickten und waren dann etwas traurig, dass der Kuchen schon weg war, und wir sagten, wo ist der denn hin, und taten, als hätten wir keine Krümel im Pulli.

Tags darauf waren sich alle einig, dass beides gehen müsse, Zukunft und 90er Jahre, dass beide Themen doch bestens koexistieren könnten, allerdings wollte sich keiner mehr um die 90er Jahre kümmern, abstrakt konnten sie bestens tolerieren, dass sich andere mit den 90ern beschäftigen wollen könnten, konkret wollten sie aber jetzt, da sie eine Nacht darüber geschlafen hatten, alle in die Zukunft, wollten das Archiv befragen zu Künstlicher Intelligenz und Ressourcenknappheit, zu Gleichberechtigung und Smart Cities, zu Fridays for Future und politischer Debattenkultur, und vor allem wollten sie: schreiben. Und sie schrieben, schrieben viel und lang, die Zeit wurde knapp, wir trippelten zwischen Frieder und Paul umher, zwischen Johanna und Henriette, zwischen Luisa, Helena, Nepomuk und Matthias, und fragten leise, bist du schon so weit? Brauchst du noch ein wenig? Oh, das ist aber schon viel, willst du nicht…, und sie ignorierten uns oder scheuchten uns davon, ihre Stifte kratzten übers Papier, hektischer jetzt, manchmal ein Blick auf die Uhr, nach und nach legten sie ihre Füller zur Seite, blickten kritisch in ihre Collegeblöcke, und wir ließen von den Keksen ab, machten uns bereit, schoben ihnen schon den Rekorder zu, und endlich sagten sie, gut, okay, von mir aus können wir jetzt, und dann nahmen wir auf.

Sie sind jetzt im Archiv. Helena und Frieder und Luisa und Nepomuk und Henriette und Matthias und Johanna und Paul. Wir auch. Aber wir nur am Rande, wir sind nur die dumpfen Stimmen, die manchmal freundlich Fragen stellen, sich dabei kaum hörbar Kuchen vom Pulli klopfen. In der Hauptsache geht es um ihre Stimmen, ihre Texte, über das Archiv und über das Archiv hinaus, aus dem Archiv heraus und in das Archiv hinein.

Yannic Han Biao Federer (*1986) studierte Germanistik und Romanistik in Bonn, Florenz und Oxford. Für seine literarischen Texte erhielt er u.a. das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln 2017, den Preis der Wuppertaler Literatur Biennale 2018 und den 3sat-Preis 2019. Sein Debütroman Und alles wie aus Pappmaché (Suhrkamp) erschien 2019, sein zweiter Roman Tao (Suhrkamp) folgte 2022. Er schreibt Essays für SWR2, Rezensionen für den Deutschlandfunk Büchermarkt und ist Mitglied im PEN Berlin und im Jungen Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. An Schulen und Bildungseinrichtungen gibt er Workshops und Seminare zum Kreativen Schreiben, seit 2019 ist er Lehrbeauftragter an der Universität Bonn und leitet dort das Seminar Werkstatt Literarisches Schreiben.

YANNIC HAN BIAO FEDERER

KIRSTEN FUCHS

Die Hitze sagte „Guten Tag!“, als Julia, Nadja und ich in Bad Godesberg aus dem Zug stiegen, im Gepäck Wechselsachen und ein Workshopkonzept, von dem wir überzeugt sind, welches sich aber nur als gelungen erweisen wird, wenn es aus dem Papier herausspringt und von den jungen Menschen aufgefangen wird, die sich für den Workshop angemeldet haben. Ein Konzept ist nicht alles. Es ist nur der Ball.

Die Hitze begleitete uns zum Hotel, wo wir Yannic trafen.
Wir hatten uns alle vorher am Bildschirm des Laptops kennengelernt und bekamen nun drei Dimensionen, während wir bei Flammkuchen noch einmal das Konzept überarbeiteten, das am nächsten Tag zum Spielen auffordern sollte.
Die Aufgabe unseres Workshops war komplizierter, als sie im Nachhinein erscheint. Ich möchte eigentlich nicht die eierlegende Wollmilchsau aus dem Stall holen, denn sie legt gerade Eier und wird gemolken, aber dieses Projekt wollte ähnlich viel, und der Hut, unter den wir das alles bringen wollten, der gehört dem Bauer der eierlegenden Wollmilchsau. Das Projekt wollte: Beschäftigung von jungen Menschen mit dem Tonarchiv Dichterlesen.net des Literarischen Colloquiums Berlin, einen Zugang für Jugendliche auf der Website schaffen, aber auch Pädagog·innen sollen fündig werden für Inspirationen, wie das Interesse geweckt werden kann für diese große Sammlung von Lesungsmitschnitten. Ein Podcast soll entstehen. Ein Hörraum (was ist das?) ist das Ziel. Es wird einen Impulsvortrag geben. Und wir wollen die Jugendlichen selbst ihren Weg finden lassen, obwohl es schon ein Ziel gibt, aber dieses Ziel ist, dass etwas entsteht, das Jugendlichen gefällt. Der Workshop ist geplant verspielt. Die Hitze stand am ersten Workshoptag vor uns auf. Passend dazu begrüßten uns - gleich nach Frau Grunow, der stellvertretenden Schulleiterin des Amos-Comenius-Gymnasiums - in der Schule große Objekte, die Schüler·innen der Schule mit zu „Fridays for Future“- Demonstrationen nehmen. Tierfiguren, aus Sperrholz und Pappmaché, ein Totenschädel.
In einer Vitrine lagen Objekte, die zum Thema Corona angefertigt wurden. Vorne im Durchgang standen Stellwände mit Befragungen zum Thema Rassismus, Sexismus, Bodyshaming. Wir mussten in diese Schule kein politisches Bewusstsein bringen. Die Jugendlichen dieser Generation sind nicht nur Digital Natives, sie sind auch Diversity Natives und noch andere Natives.
Wir trafen auf knallwache Menschen: Frieder, Henriette, Johanna, Luisa, Matthias, Nepomuk, Paul und Helena. Sie verstanden alles sofort und wir sahen alt aus, sobald wir dachten, dass wir was erklären müssten. Sie verschwanden im Archiv voller Literatur und unter ihre Kopfhörer, Tastaturgeklapper, Stifte kritzten und kratzten. Neue Literatur entstand.
Am Ende des ersten Tages wurde das Thema „Zukunft“ als Oberthema gefunden und in der sehr nahen Zukunft, nämlich am nächsten Tag, bearbeitet. Die entstandenen Texte wurden bis zur letzten Minute des zweiten Workshoptages eingelesen, um so Teil des Archivs werden zu können und Dichterlesen.net einen neuen, in die Zukunft gerichteten Blick hinzuzufügen.
Jugendliche haben den immer wieder neuen Blick. Er ist noch nicht oder wenig verbogen davon, dass Ansicht und Umsetzung aneinander reiben und nachjustiert werden müssen. Sie haben das Recht, Recht zu haben.
Jugendliche sind geheimnisvolle Wandelwesen, weil sie wie ein Flackern zwischen Kind und Erwachsenen sind, ein Schaukeln zwischen ihren Zuständen und Selbstentwürfen. Jugendliche sind die spannendste Schaltstelle im Leben überhaupt, der Frühling in einem unbekannten Garten und niemand kann wissen, welche Pflanze an welcher Stelle aus dem Boden kommt. Sie sind das Gegenteil von einem Archiv. In ihnen ist noch nicht so viel abgelegt und wenn, dann in einem System, das neu sein könnte.
Wenn man Wandelwesen in ein festes System schickt, dann wandelt sich auch das feste System.
Das ist passiert, als die Jugendlichen und das Archiv aufeinandertrafen. Jetzt sind die Jugendlichen Teil des Archivs, als hätten sie einen Seiteneingang eingebaut. Die Zukunft in der Vergangenheit.
Die Jugendlichen in diesem Workshop haben sich dem Archiv geöffnet und das Archiv damit ihrerseits geöffnet. Obwohl in den Texten im Hörarchiv noch nicht überall gegendert wird, Frauen noch nicht mal immer mitgemeint sind, von einer damaligen Zukunft gesprochen wird, keine Triggerwarnungen vorhanden sind und vieles andere nicht, was für Digital Natives und Diversity Natives inzwischen Standard ist.
Die Texte, die entstanden sind, haben die Wucht der Ehrlichkeit, das Vertrauen in die eigene Stimme, das Ergänzen des Ungesagten, das Hinzufügen dieser Generation. Eigentlich wurde nicht ein Seiteneingang in das Archiv eingebaut, sondern vielmehr viele Fenster, so dass stoßgelüftet werden kann.

Kirsten Fuchs (*1977) schreibt Kolumnen für Das Magazin und Radio 1 und hat diverse Romane, Kurzgeschichtenbände sowie Theaterstücke veröffentlicht. Fuchs war bei verschiedenen Lesebühnen aktiv, aktuell liest sie bei Fuchs & Söhne und Des Esels Ohr. 2003 gewann sie beim Berliner Literaturwettbewerb Open Mike, darüber hinaus wurde sie mit dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet, mit dem Kasseler Förderpreis für komische Literatur und dem Deutschen Jugendliteraturpreis für ihren Roman Mädchenmeute (Rowohlt Berlin). 2022 erhielt sie den W. G. Sebald Preis. Seit 2000 leitet sie Arbeitsgruppen beim Workshop Schreiben/Schreibwerkstatt Berlin und gehört zum Vorstand des Vereins Kreatives Schreiben e.V.
1997 gewann sie beim Treffen Junger Autoren, bis 2021 war sie Teil der Jury und betreute weitere Schreibworkshops.

KIRSTEN FUCHS

Do it yourself

In dieser Rubrik ist Ihre/Eure Kreativität gefragt. Sie sind Lehrer·in und suchen nach innovativen Anregungen für den Deutschunterricht? Arbeiten Sie sprachlich mit Kindern und Jugendlichen und sind auf der Suche nach einfachen didaktischen Tipps, neuen Ideen für Sprachspiele oder fantasievolle Beschäftigungen? Oder leitest Du eine Workshopgruppe zum Kreativen Schreiben und hättest Lust, unser Workshopkonzept auszuprobieren?

Hier geben wir Ihnen/Euch ein paar einfache Tipps, ohne große Vorbereitung und Material mit literarischem Audiomaterial zu arbeiten, zu spielen oder einfach kreativ zu sein.
Ich erinnere mich…
Aus dem Hut gezaubert
Aus dem Hut gezaubert #2
Handgemacht, nicht nachgedacht
Ort und Stelle
Kabinett der guten Eigenschaften
Ritterrüstung
Geburtstag
Ohne O
Fremde Federn
Anderes Ende
Reihumtexte
Stille Post
Schnipseltext
Rollenspiel
Falschrum
Perspektivwechsel
Textvergleich
Der LCB-Workshop
Telefongespräch
Liebesbrief

Info

Dichterlesen.net ist eine Initiative des Literarischen Colloquiums Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Literaturhaus Basel, dem Literaturhaus Stuttgart, der Stiftung Lyrik Kabinett München und dem internationalen literaturfestival berlin. Das Projekt „Uns gehört die Zukunft“ wurde gefördert vom Deutschen Literaturfonds im Rahmen des Programms „Neustart Kultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Förderer