Übersetzen als Kunst: Swetlana Geier

22. Mai 1997
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung und Gespräch: Swetlana Geier
Moderation: Eveline Passet

Programmtext

Unsere neue Veranstaltungsreihe stellt bedeutende Übersetzer in den Mittelpunkt eines Gesprächs. Swetlana Geier, 1923 in Kiew geboren, gilt als die "grand old lady" unter den Übersetzern russischer Literatur ins Deutsche. Sie hat Solschenizyn und Sinjawski ihre deutsche Stimme gegeben, seit einigen Jahren widmet sie sich ganz dem Romanwerk Dostojewskis. "Verbrechen und Strafe" (Ammann Verlag) - diesen Roman übertrug sie 1993 zum zweitenmal nach 1964 - wurde in ihrer Neuübersetzung zum großen Bucherfolg. 1995 erhielt sie den Anerkennungspreis des Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Den interpretatorischen Charakter des Übersetzens hat sie immer besonders betont. Eveline Passet fragt nach der Poetik, dem philologischen Gewissen und dem Werdegang Swetlana Geiers.

Weiterführende Information

Zunächst dreht sich das Gespräch um das gesellschaftliche Klima während des Krieges aus der Perspektive einer jungen Ukrainerin. Swetlana Geier berichtet, wie sie als Dolmetscherin in Dortmund arbeitete und welche Folgen der Status als Zwangsarbeiterin für sie hatte - sie durfte u.a. keine Schreibmaschine benutzen und musste ein blaues Zeichen auf ihrer Kleidung als Erkennungsmerkmal tragen.
Es folgt eine eindrucksvolle Lesung eines klassischen Textes: Swetlana Geier liest ein Kapitel aus Dostojewskis Roman "Verbrechen und Strafe", in welchem die berühmte Rede des Marmeladow im Zentrum steht. Die sogenannte Rede des Marmeladow ist ein paradigmatischer Text über einen Alkoholiker, dessen Krankheit die Familie ins soziale Abseits führt. Gerade der Schlussteil mit seinen Anspielungen auf die Evangelien gehört zu den stärksten Passagen Dostojewskis. Nach der Lesung erläutert Swetlana Geier, wie nahe der Autor die schriftlich fixierte Sprache an mündliche Rhythmen bindet. Sie erklärt, wieso bei ihm jede Figur, außer dem Fürst Myschkin in "Der Idiot", mehrstimmig redet. Sie berichtet, wie noch in den 20er Jahren hierzulande die Rezeption Dostojewski als Psychologen rühmte, ihn aber als Schriftsteller nicht vollkommen anerkannte. Schließlich erläutert Geier, wie der berühmte Roman "Der Idiot" zu seinem Titel gelangte und warum "Die Dämonen" als Titel falsch, dafür aber "Böse Geister" richtig sei. Zum Schluss der Veranstaltung resümiert Swetlana Geier: "Das Wörterbuch ist die traurigste Krücke, die es gibt" - und spielt damit auf kryptische Weise auf das komplexe Handwerk des Übersetzens an.

Personen auf dem Podium