Der Spleen von Paris. Simon Werle im Studio LCB

22. Oktober 2019
Literarisches Colloquium Berlin

Simon Werle im Gespräch mit Walburga Hülk und Heinz Schlaffer
Moderation: Katharina Teutsch

Programmtext

Baudelaire gilt heute als Begründer der modernen Großstadtpoesie und als Prototyp des modernen Dichters. Während Flaubert von seinem Zensurprozess gegen Madame Bovary profitierte und bald in den höchsten Gesellschaftskreisen verkehrte, blieb Baudelaire wegen seines vermeintlichen „Immoralismus“ ein Außenseiter. Der glühende Revolutionär gehörte zum poetischen Prekariat des Zweiten Kaiserreichs. Und er schrieb über prekäre Existenzen: über Trinker, Bettler, Huren und Tagelöhner. Simon Werle hat nach den »Fleurs du Mal« nun auch Baudelaires zweite große Gedichtsammlung neu übersetzt. Der »Spleen de Paris« steht im Zentrum dieses Abends. Frankreich unter Napoléon III war zwischen restaurativen und modernisierenden Kräften gespalten. Unzählige Pariser hatten durch den Hausmannschen Kahlschlag ihr Zuhause verloren. Während die Monarchie sich in glanzvollem Retrochic präsentierte, hatte die Gesellschaft mit allen möglichen Modernisierungsschüben zu kämpfen. Neue Eisenbahnlinien zerschnitten das Land. Außerhalb Frankreichs nahm das koloniale Wettrüsten seinen Lauf. Die Börsenspekulation und der großstädtische Konsum, aber auch das Elend der Grubenarbeiter prägen die Jahrzehnte im Zweiten Kaiserreich. Fortschritt, das hat Baudelaire geschrieben, sei die „Abnahme der Seele und die Zunahme der Materie“. Mit Simon Werle diskutieren die Literatur- und Kulturwissenschaftler Heinz Schlaffer und Walburga Hülk.

Weiterführende Information

Zur Einführung in den Abend befragt Katharina Teutsch die Gäste zu den politischen, ästhetischen und ökonomischen Transformationsprozessen im Frankreich der Jahrhundertmitte. Es wird über den Platz der Kunst im öffentlichen Leben gesprochen, über Baudelaires Rückgriff auf Traditionen und Vorgriffe auf die Moderne. Simon Werle erklärt allerdings, das besondere an Baudelaires Lyrik sei weniger, dass sie bestimmte gesellschaftliche Prozesse eingefangen habe, als dass Baudelaire darin das Erotische mit dem Perversen, die Deprivation und das Sakrale in unaufgelösten, ineinander verschlungenen Gegensätzen zusammengebracht habe - was auch auf den titelgebenden "Spleen" zutreffe. Nach Walburga Hülks erster Lesung wird über Baudelaires Verhältnis zur Literatur als Ware gesprochen, über die sozialen Klassen im Frankreich seiner Zeit und die Sittenstrenge gegenüber den Künstlern. Heinz Schlaffer spricht über die "Scheinheiligkeit" eines Zeitalters, das Baudelaire als unmoralisch verdammte und andererseits eine stete Nachfrage nach Pornographie aufrechterhielt. Simon Werle würde so weit gehen, die "Fleurs du Mal" nicht als Blumen des "Bösen," sondern vielmehr des "Schmerzes" zu übersetzen. Es wird über das Übersetzen und die Halbwertszeit von Übersetzungen gesprochen und von dort zum "Spleen von Paris" übergeleitet. Die Form des Prosagedichts wird von Heinz Schlaffer als Innovation herausgestellt, während Simon Werle sie nicht einmal zweifelsfrei als Lyrik anerkennen möchte (und auf die journalistischen Anteile daran verweist). In jedem Fall werden diese Texte als ein sehr zeitgemäßes Medium der Stadtdarstellung empfunden. Zum Abschluss werden dann literaturgeschichtliche Schlussfolgerungen verhandelt. Und während Simon Werle den "Spleen" für geringer hält als die "Fleurs," empfiehlt Heinz Schlaffer das zuletzt übersetzte Werk als das zugänglichere.

Personen auf dem Podium