Ausstellungseröffnung: Kassiber. Verbotenes Schreiben

27. September 2012
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Vortrag: Fritz J. Raddatz
Lesung und Musik: Liao Yiwu
Begrüßung: Ulrich Raulff und Herbert Wiesner
Einführung: Tienchi Martin-Liao
Übersetzung: Karin Betz

Programmtext

Schreiben ist oft der letzte Weg, sich unter extremen Bedingungen seiner menschlichen Würde zu versichern. Große Texte wie Der Trost der Philosophie von Boethius, de Sades 120 Tage von Sodom, Oscar Wildes De profundis und Ezra Pounds Pisaner Cantos sind im Gefängnis entstanden. Cervantes dachte sich den Don Quijote als Sklave auf einer Galeere aus, Dostojewski Das Totenhaus und Ovid seine Tristia in der Verbannung. Das Manuskript von Pasternaks Doktor Schiwago wurde in den Westen geschmuggelt. Schubart dichtete sein bekanntestes Gedicht Die Forelle auf dem „Tränenberg“ der Schwaben, dem Hohenasperg. Die Ausstellung zeigt das Schreiben als Ausweg bis in unsere Zeit der Facebook-Revolutionen. Das PEN-Zentrum Deutschland ist als Teil des Internationalen PEN auch im 1960 gegründeten Writers-in-Prison-Committee aktiv. Es gestaltet innerhalb der Ausstellung einen eigenen Raum, u.a. mit Aufzeichnungen des Dichters Liao Yiwu, der 1990 wegen „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischer Hilfe“ in China zu vier Jahren Haft verurteilt worden ist.
Zur Eröffnung liest Liao Yiwu, Herbert Wiesner und Ulrich Raulff begrüßen, den Festvortrag um 19.30 Uhr hält Fritz J. Raddatz.

Weiterführende Informationen

„Kassiber“ – das sind laut Ulrich Raulff „verbotene Schriften, unterdrückte Nachrichten, geschmuggelte Botschaften, Texte, die sich wie Schreie anhören, und andere, die flüstern. Flüstern, das wie ein Selbstgespräch klingt oder wie ein Gebet.“
Die Ausstellung „Kassiber. Verbotenes Schreiben“, die vom 27. September 2012 bis zum 27. Januar 2013 im Literaturmuseum der Moderne in Marbach zu sehen war, beleuchtete das „Phänomen des Schreibens-trotz-allem“. Ulrich Raulff erläutert den Gegenstand dieser Ausstellung bei der feierlichen Eröffnung folgendermaßen: „Schreiben am Nullpunkt der bürgerlichen, moralischen und rechtlichen Existenz. Schreiben im Angesicht des Todes und der Bedrohung mit Haft und Verbannung. Schreiben in der Situation totaler Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit. Schreiben trotz allem.“ Es geht zweifelsohne „um Extremsituationen des Schreibens“. Der Schreibakt, der „in der Haft, im Lager, auf der Flucht, in der Verbannung“ erfolgt, wird aber auch zum „Akt der Selbstrettung“: Den ihn umgebenden Kerkerwänden setze der Schreibende die überlegene Macht des Wortes und der Schrift entgegen.
Die Umsetzung dieses spannenden Themas gestaltete sich für die Ausstellungsmacher schwieriger als man vielleicht annehmen möchte: „denn ihrer Natur nach wollen Kassiber unsichtbar bleiben. Sie machen sich klein bis zum Verschwinden, sie maskieren und tarnen sich.“ Ulrich Raulff definiert sie als „geistige und materielle Fluchtfahrzeuge“. So würden Kassiber stets versuchen, „sich aus der Sichtbarkeit zu schleichen“. Sie seien „Kunstwerke der Verdichtung und der List“. Alle in der Ausstellung gezeigten Objekte waren „Träger von Geschichten“. Fritz J. Raddatz führt in seinem kenntnisreichen Vortrag, der mit einer Begriffsbestimmung beginnt, einige anrührende, zutiefst bewegende und durchaus auch erschütternde Kassiber-Schicksale an.
Im Zentrum der Marbacher Ausstellung standen die handschriftlichen, im Original gezeigten Kassiber des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu: Die brüchigen Blätter, entstanden während seiner vierjährigen Haftzeit (1990–1994), sind mit winzigen, ameisengleichen Schriftzeichen randvoll beschrieben und konnten aus dem Provinzgefängnis von Dazhu erfolgreich herausgeschmuggelt werden. Im letzten dieser vier Jahre in Haft arbeitete Liao Yiwu an den Manuskripten eines mehrbändigen Romanwerks mit dem Titel „Überleben“. Der von ihm verfasste Essay „Der passende Ort für einen Dichter ist das Gefängnis“, der von Liao Yiwu in gekürzter Fassung auf Chinesisch und von Karin Betz in deutscher Übersetzung anlässlich der Ausstellungseröffnung gelesen wird, gibt Auskunft über Entstehung und Inhalt dieses umfangreichen Romanwerks.

Personen auf dem Podium