Sonntagsmatinée: Vom Hungerengel eins zwei drei

18. Juni 2006
Literarisches Colloquium Berlin

Lesung: Herta Müller und Oskar Pastior
Moderation: Helmut Böttiger

Programmtext

"Kleine Schätze sind die, auf denen steht: Da bin ich. Größere Schätze sind die, auf denen steht: Weißt du noch. Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen niemals stehen wird: Weißt Du noch, sondern: Da war ich." Oskar Pastior war dort: in der Industrieregion Donbas - wie 80.000 andere Rumäniendeutsche in den Jahren 1945-49 von den Sowjets als Zwangsarbeiter verschleppt. Im kommunistischen Rumänien wurde über die Deportationen nicht gesprochen. Oskar Pastior, Jahrgang 1927, setzt sich seit einigen Jahren der Erinnerungsarbeit aus: gemeinsam mit Herta Müller, deren Familiengeschichte ebenfalls von den Deportationen überschattet wurde und die den Anstoß für das Projekt gab. Sie fuhren gemeinsam an die historischen Orte, sprachen mit den heute dort lebenden Menschen, tauchten ein in die Landschaft der Ukraine. In gemeinsamer Sprach-Arbeit entsteht seit einigen Jahren die subjektive Rekonstruktion einer Biographie, aus der die beiden lesen werden.

 

Oskar Pastior und Herta Müller erhielten 2004 ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, das die Reise in die Ukraine ermöglichte.

Weiterführende Information

Herta Müllers Roman „Atemschaukel“, der im Spätsommer 2009 erschien und großen Erfolg hatte, hat eine Vorgeschichte, die in dieser Veranstaltung zur Sprache kommt. Ursprünglich war "Atemschaukel" nämlich ein Gemeinschaftsprojekt von Herta Müller und Oskar Pastior. Warum und wie sie gemeinsam gearbeitet haben, davon erzählen die Autoren.
Der Schwerpunkt liegt auf Pastiors Erlebnissen in einem sowjetischen Arbeitslager. So erfährt das Publikum z.B., wie die Häftlinge aus Gummireifen Schuhe herstellten, die sie schließlich „Balletski“ nannten. Herta Müller und Oskar Pastior berichten ebenfalls über die brutalen Folgen systematischer Unterernährung: Wie die Deportierten in ihrer Verzweiflung einfaches Gras für Suppen verwendeten - und warum sie Gras gerade den Namen „Meldekraut“ gaben. Aus einer Bemerkung Herta Müllers lässt sich schließlich die Poetik des Verfahrens ableiten, das zum Buch „Atemschaukel“ führte. „Alle Menschen brauchen Poesie“, konstatiert die Nobelpreisträgerin. Sie würden auch in manchen Augenblicken poetisch sein - ergo über Poesie verfügen. Dann ergänzt sie mit feiner Ironie: „Nur die Schriftsteller haben oft keine.“ Denn die Schriftsteller müssten diese Poesie suchen. Gerade die Gemeinschaftsarbeit zeigt das Bemühen des Aufspürens poetischer Wahrheit.


Hinweis: Leider ist die Lesung nicht vollständig verfügbar, da der Verlag nur eine 20-minütige Hörprobe aus dem vorgestellten Text genehmigte.

Personen auf dem Podium