Die Unendlichkeit der Sprache
Aus-, Ein- und Rückwanderungen
Zwischen poetischer Anrufung und der Kälte der Zeitgenossenschaft liegen nicht nur viele Denkstationen und Versehen / Verstehen der Sprache, sondern auch ganze Buchstabenbiographien polyglotter Wörtermenschen. Aus ihren Texten und Lebenserfahrungen lässt sich eine weitverzweigte Weltlandkarte zeichnen. Die Arbeitsweise mit verknüpften Sinnen ist oft genug alchemistisch, auf die Synthese ausgerichtet. Eine Sprache ohne Verschmelzungen und Verwandlungen ist nicht vorstellbar. Das einzelne Leben, die einzelne Biographie ist immer mit dem Imaginären verbunden, das Imaginäre ist immer ein bisschen autobiographisch. Die geheimen Verbindungen zwischen beiden führen regelrecht zu einer Schule des Sehens. Manchmal erfahren wir, dass unsere Handschrift (als ausführendes Denkorgan unserer Sprache) alles über uns weiß. Das kann beunruhigen. Dieses Archiv der Sprache, das an das Schicksal des Menschen gekoppelt ist, ist oft genug missbraucht worden. Georges-Arthur Goldschmidt etwa vermochte in eine Sprache, die ihn eliminieren wollte, zurückzukehren und in ihr sein Leben und die ihm zugrundeliegenden Themen (Zeichen) zu umkreisen. Die erste Sprache seines Lebens ist in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für viele die zweite Sprache geworden. Manche haben sie gewählt, andere hatten keine Wahl und tragen zwei Muttersprachen mit sich herum. Unmöglich? Warum? Ist Muttersprache in unserer Zeit überhaupt eine verlässliche Kategorie? Der russische Philosoph und Schriftsteller Michael Ryklin findet, dass Muttersprache „relativ“ ist. Für Hilde Domin war die deutsche Sprache hingegen ihr „letztes unabnehmbares Zuhause“, eine bleibende Konstante im Zeitalter barbarischer Extreme – sie inspirierte mit ihrer Aussage viele im Transit schreibende Menschen, unter anderem den aus China stammenden und in englischer Sprache schreibenden Ha Jin, der ein ganzes Buch über den ausgewanderten Autor geschrieben hat. Das Menschlichste am Menschen sei die Sprache, heißt es einmal bei Heinrich Böll. Es gibt kein Menschsein ohne Verletzlichkeit und eine Sprache, die nicht genau das spiegelt, kann es erst recht nicht geben. Die Sprache zittert, weil die Idylle zittert. Immer. Die Sprache zeichnet das Ganze seismographisch auf. Sie ist ein lebendiges Palimpsest. Alle Schichten der Sprache gehen und reden immer mit. Zeitgleich. Selbst dann, wenn wir glauben, dass die Urgründe schweigen, erzählen sie unser im Unsichtbaren verknüpftes Leben, wie es Gila Lustiger in ihrem Vortrag über das literarische Arbeitsverfahren von Danilo Kiš aufzeigt. Die Freiheit und die Unendlichkeit der Sprache gibt es nur, weil es ihre Begrenzung gibt. Das eigenartige Paradox ist, dass gerade die Begrenzung die Öffnung zum Größeren erlaubt. Verknüpfte Sinne. Sie sind die Farben unter den Erzählern. Warum ist die Welt dabei Klang? Und welche Rolle spielen die Farben in Verbindung mit Buchstaben, mit Worten, mit Sprache? „Es gibt keine Geschichte des Wortes“ heißt es einmal bei Edmond Jabès, “aber unabwandelbar die Geschichte des Schweigens. Das Wort ruft sie in Erinnerung.“ Und wenn alles Übersetzung (aus diesem Schweigen) ist, ist vielleicht auch alles „Sternensprache“ im Sinne von Velimir Chlebnikov, auf den sich hin und wieder Oskar Pastior berufen hat. Nie aber ist Sprache einstimmig. So oder so murmelt in ihr immer alles Geschehene und alles Zukünftige mit. Welche Rolle kann Nationalität hierbei überhaupt spielen? Vladimir Nabokov hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Ich habe schon als Schuljunge in Russland die Meinung vertreten, dass die Nationalität eines Schriftstellers, der das Lesen lohnt, von zweitrangiger Bedeutung ist. Je charakteristischer das Aussehen eines Insekts, desto weniger wird der Taxonom geneigt sein, als erstes auf die Angabe des Fundortes unter dem aufgesteckten Exemplar zu schauen, um zu entscheiden, welcher von einigen nur ungefähr beschriebenen Rassen es zugeordnet werden sollte. Der wahre Pass eines Schriftstellers ist seine Kunst. Seine Identität sollte an einem besonderen Muster oder einer einzigartigen Färbung sofort zu erkennen sein.“ (So denkt ein „ganz normales dreisprachiges Kind“.)
Die Unendlichkeit der Sprache
„Alles fängt an mit der Unendlichkeit der Sprache“, heißt es in den Hamburger Vorlesungen von Georges-Arthur Goldschmidt. In nur diesem einen Satz, bezeichnenderweise ist es ein Anfangssatz, ist Raum für eine ganze Welt – und für ihre Unzulänglichkeiten, für die (menschliche) Stimme und für die Stummheit, für erste und letzte Erfahrungen, für das Leben und für den Tod, für die innere und für die äußere Zeit, für Farben und Elemente, für Herzen und Galgen, für sichtbar bleibende Narben, für das Gedächtnis und für das Scheitern an ihm, für den Geruch und, wie es Ruth Klüger einmal notiert, für Geruchserinnerungen. Wahrnehmung stellt die Welt her. Erbaut sie. Und Sprache versucht, Spuren in sie zu legen. Fährten. Ein paar Wiesen dazwischen. Wege. Die in den Worten sichtbar werden. Das Selbstsein. Aber. Ist es je beweisbar? Was sagen Stimmen?
Paul Celan
*23.11.1920, †20.04.1970
09.10.1969, Jerusalem
Lesung „Stimmen“
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Herta Müller
*17.08.1953Herta Müller im Gespräch mit Jan Bürger – Collagen, warum?
19.01.2005, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Oskar Pastior
*20.10.1927, †04.10.2006
20.12.1990, Studio LCB
Lesung
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Aglaja Veteranyi
*17.05.1962, †03.02.2002Spricht Gott fremde Sprachen? Kann er auch Ausländer verstehen? Oder sitzen die Engel in kleinen gläsernen Kabinen und machen Übersetzungen?
01.09.2000, LCB
Lesung aus „Warum das Kind in der Polenta kocht“
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Synästhesie: Verknüpfte Sinne, alchemistisch
„Ich glaube, ich bin als Maler zur Welt gekommen – im Ernst! –. Und bis ungefähr zu meinem vierzehnten Lebensjahr habe ich die meiste Zeit am Tag mit Zeichnen und Malen verbracht, und es war ausgemachte Sache, dass ich zu gegebener Zeit Maler werden würde. Aber ich glaube nicht, dass ich da wirklich nennenswertes Talent habe. Hingegen Sinn für Farben, das hatte ich allemal, mein ganzes Leben lang – und außerdem besitze ich noch eine ziemlich ausgefallene Gabe, Buchstaben farbig zu sehen. Man nennt das Farbenhören. Von tausend Menschen hat das vielleicht einer. Allerdings habe ich mich von psychologischer Seite belehren lassen, dass die meisten Kinder diese Fähigkeit besitzen, sie jedoch später wieder verlieren, wenn sie von bornierten Eltern zu hören bekommen, dass das alles bloß Quatsch ist – ein A ist nicht schwarz, ein B nicht braun, red’ nicht solchen Unsinn. (...) Quarzrosa – Das kommt der Farbe, die sich für mich mit dem V verbindet am nächsten. Das N wiederum ist von einer gräulichbräunlichen Hafermehlfarbe. Und nun kommt etwas Lustiges: Meine Frau besitzt ebenfalls diese Gabe, Buchstaben in Farbe zu sehen, aber bei ihr sind es ganz andere Farben. Es gibt da vielleicht zwei, drei Buchstaben, bei denen wir übereinstimmen, aber sonst sind unsere Farben vollkommen verschieden.“ (Vladimir Nabokov)
Walter Benjamin, Vladimir Nabokov, Marcel Proust, Else-Lasker Schüler und Georg Trakl – die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Marleen Stoessel (selbst eine Sinnverknüpfte) geht davon aus, dass diese Schriftsteller alle Synästhetiker waren. Nur wenige Menschen, sieht man von der emotionalen Synästhesie ab, sind genuine Synästhetiker, jemand also, der die Welt vollständig mit verknüpften Sinnen wahrnimmt. Aber bei fast allen Menschen kann es zu emotionalen und bildhaften Verknüpfungen im eigenen Welt-Erleben kommen. Die Sprache transportiert diese Tiefendimension der Empfindungen, die innen verbunden ist und die in der Außenwelt wieder getrennt werden. Bleibt die Sprache, der Klang, das Bild im Inneren, während sie im Außen manifestiert werden, wird die Ganzheit gewahrt. In diesem Sinne, schreibt Marleen Stoessel empathisch, könne der Synästhetiker immer nur ein Weltbürger sein, „ja Weltenbürger, ein Nomade dieser Welten, ihrer Grenzen und Überschreitungen (...). Nicht nur neue oder andere Synapsen im Gehirn, sondern auch einen weiteren Blick, eine weiter gefasste Humanität kann man durch sie kennenlernen.“ Diese andere Form von Humanität wird durch das poetische Wort, durch seine Nacktheit und Unverkäuflichkeit (es verkauft sich nicht einmal an das Äußere, bleibt auch auf seinem Weg in die Stimme in sich selbst beheimatet - verknüpft) in die Welt gegeben und beweist gleichzeitig ihr Vorhandensein im Zustand der Verschmelzung.
Elias Canetti
*25.07.1905, †14.08.1994Hilde Domin
*27.07.1909, †22.02.2006Grün als synästhetisches Medium der Sinnfindung
01.06.1994, DLA
Lesung „Garden. Wilderness“ (Englisch und Deutsch)
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Ilma Rakusa
*02.01.1946Aufzählungen verknüpfen unterschiedliche Wahrnehmungsebenen miteinander und zeigen auf, dass unsere Erinnerungs- und Bewusstseinsarbeit immerzu auf Listen zurückgreifen und so Schöpfungen in unserer Sprache manifestieren kann. Ilma Rakusa sieht in Listen ein literarisches Verfahren, die Welt auf möglichst knappem Raum zu erzählen. Dazwischen: die Arbeit der Stille.
10.12.2009, LCB
Gespräch mit Christina Weiss
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Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928Georges-Arthur Goldschmidt – „All diese vielfarbigen und ein wenig naiven (deutschen) Wörter“
20.09.2005, DLA
Lesung aus „Über die Flüsse“
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Oskar Pastior
*20.10.1927, †04.10.2006Bauen mit den Sinnen – Oskar Pastiors „akustische Bauwerke“
20.12.1990, Studio LCB
Lesung „Rotation”
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Klaus Ramm erläutert engagiert, was an der Klanglichkeit von Oskar Pastior widerständig ist und welche Verbindung er zur Biographie des aus dem Banat stammenden Dichters sieht.
20.12.1990, Studio LCB
Klaus Ramm über Oskar Pastior
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Die rätselhaften Verknüpfungen in Pastiors Sprachen machen den Moderator ratlos, er will verstehen, was ein SONETBURGER ist oder was es mit dem KRIMGOTISCHEN auf sich hat. Oskar Pastior antwortet mit einem Text, in dem die Alchemie jenseits der Schiene von Einseitigkeit eine große Rolle spielt:
20.12.1990, Studio LCB
Lesung und Gespräch
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Yoko Tawada
*23.03.1960Schwankende Setzungen, Bettbefehle, Stellen, an denen es schweigt und dunkelt: Unterhaltungen suprasinnlicher Wortakrobatik – „im Traum isst man keinen Kuchen, selbst wenn es regnet.“
03.05.2000, DLA
Lesung I: Gedichte
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„Irrtümer, die Ammoniak enthalten“ - mit verknüpften Sprachsinnen von Metamorphose zu Metamorphose
03.05.2000, DLA
Lesung II: Gedichte
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Versehen, Verstehen der Sprache
Im Stolpern erweist sich manchmal die Klarheit für den nächsten Schritt – und der Weg wird sichtbar, auf dem wir gehen. So gibt es Versehen in der Sprache, die etwas sichtbar machen, was nicht beabsichtigt war und dennoch (obzwar objektiv falsch) von einem tieferen Verstehen zeugen, an das die Sprache wie an ein unsichtbares Stromnetz angebunden ist.
Elias Canetti
*25.07.1905, †14.08.1994Elias Canetti spricht von Manchester als seinem zweiten Land – eine Stadt, die sein ganzes Leben veränderte und in der Wahrnehmung des Kindes wie ein neues Land gewirkt haben muss:
06.10.1978, Stuttgart
Einführung und Lesung
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Ruth Klüger
*30.10.1931In „weiter leben“ beschreibt Ruth Klüger die Zeit nach ihrer Flucht aus dem Lager und wie sie sich mit ihrer Mutter in Straubing unter die Leute mischt. Während sie dort, bereits in der Freiheit festeren Schrittes gehend, am Rande steht, sieht sie eines Tages beim Einkaufen KZ-Häftlinge mitten durch die Stadt gehen. (Von diesen Menschen will später niemand in Deutschland etwas gewusst haben.) Übergenau begreift die Erzählerin beim Anblick „der eigenen Leute“, was bis vor kurzem auch ihr Schicksal war. Das Kind sieht die Häftlinge mitfühlend an, aber nicht nur das, es begreift auch, dass die Vorbeigehenden sie zu der „Welt der Bewaffneten“ zählen, weil sie nichts von ihrem Schicksal wissen. Aber bei der Lesung verspricht sich Ruth Klüger dann und sagt nicht die „Welt der Bewaffneten“, sondern, ihrer inneren Wahrheit gemäß, „die Welt der Betroffenen“.
07.09.1994, DLA
Lesung aus „weiter leben“
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Hilde Domin
*27.07.1909, †22.02.2006Über die Dominikanische Republik sagt Hilde Domin in einem unbedachten Moment, sie sei ein FERIENRESTAURANT – statt FERIENPARADIES. Der an sich lustige Augenblick offenbart aber eine interessante Wahrheit. Unsere Zeit lässt viele, auch altehrwürdige Orte derart durch den Tourismus verkommen, dass man gar nicht mehr von Orten, sondern von Nicht-Orten, oder, milder, von Durchgangsorten sprechen müsste, von Ferienrestaurants also, die von hungrigen Reisenden aus der ganzen Welt aufgesucht werden und die am Ende nur an ihrer Sättigung interessiert zu sein scheinen, ohne irgendeinen Sinn für den Ort selbst zu entwickeln.
30.11.1995, DLA
Gespräch
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Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928Georges-Arthur Goldschmidt erläutert, wie er das Deutsche wahrnimmt – als eine Sprache mit einer tragischen Geschichte. Den „Tücken der Geschichte“ zum Trotz ist es die Sprache seiner Literatur geworden. Anders aber als etwa bei Hans Keilson, der von der Sprache seiner Kindheit sagte, er habe sie nie hassen können, fällt es Goldschmidt nicht leicht, seine Liebe in dieser Direktheit auszudrücken. In dem Moment, in dem er schließlich sagt, das Deutsche sei die schönste Sprache, die er kenne, hört es sich im ersten Anlauf so an, als würde er sagen, das Deutsche sei die schlimmste Sprache, die er kenne. Bevor er es später deutlicher sagt, spiegelt sich darin die lebenslange Reibung zwischen dem Deutschen (der Sprache, wie er es sagt, die ihn eliminieren wollte) und dem Französischen (die Sprache seiner Rettung, seines Lebens in Freiheit). Interessanterweise kommt Goldschmidt hierbei anfangs auf Martin Heidegger zu sprechen, mit dem er streng ins Gericht geht (siehe die Heidegger-Kontroverse und Publikation der Schwarzen Hefte), dessen „braunen Ton“ er schon damals hervorhob, ohne von den späteren Erkenntnissen wissen zu können. Der Moderator Jan Bürger insistiert fragend und will mehr über das Verhältnis von Deutsch und Französisch in Goldschmidts Kosmos wissen, der daraufhin noch ein anderes schönes Versehen produziert: statt „Als Freud das Meer sah“, sagt er plötzlich „Als Deutsch das Meer“ sah.
20.09.2005, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Oskar Pastior
*20.10.1927, †04.10.2006Das kalkulierte Versehen – „das Denken des Zufalls“ bringt Verschiebungen, Buchstabendreher mit sich. Und der Klang fordert ein neues Verstehen heraus.
20.12.1990, Studio LCB
Lesung „Das Denken des Zufalls”
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Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928
„Meine Schrift weiß alles über mich“
Georges-Arthur Goldschmidt beschreibt im Gespräch mit Jan Bürger, auf welche Weise er sprachschöpferisch freier sein kann. Den Computer empfindet er als neutral, ein Ding, das ihn nicht kennt. Seine Handschrift hingegen wisse alles über ihn. Das Verstehen der Sprache ist gerade in seinem Fall durch den körperlichen Aspekt besonders frappierend, da die Hand die Regie übernimmt und sich der Kontrolle entzieht.
06.06.2014, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Orte der
Mutter /
Sprache – Echoräume
Lebensstränge, Satzkontinente, verdichtetes Sein. Die Freundschaft des Imaginären. Eine Weltlandkarte aus Sprache. Deutsche Wörter, unterwegs. Im Inneren. Im Äußeren. – Reisen. In der Erinnerung. In der Zeit. Am Wannsee – zwischen Wo und Wann.
Paul Celan
*23.11.1920, †20.04.1970Über Paul Celan ist so viel geschrieben und gesagt worden, dass man ihn, kommt er je einmal überhaupt selbst zu Wort, gar nicht mehr richtig hört. Man könnte sogar sagen, dass man ihn von allen Seiten so sehr umzingelt hat, mit Deutungen und Wahrheiten unter Besatzung gebracht hat, dass es geradezu strukturell die für ihn bittere Erfahrung in der Gruppe 47 spiegelt. Über Celan wurde damals ein vernichtendes Urteil gesprochen. Es hieß, er habe zu „pathetisch“ gelesen. Hans-Werner Richter sah sich gar zu dem Satz berufen, Celan habe „in einem Singsang vorgelesen, wie in einer Synagoge“. Andere in der Gruppe sprachen höhnisch über ihn und es hieß sogar, er habe „wie Goebbels“ rezitiert. Dass niemand von den Anwesenden in der Gruppe 47 „sein Schicksal“ gekannt haben soll, spricht genauso Bände, wie das heute der Fall ist, wenn alle nun sein „Schicksal“ im Mund führen und ihm gar nicht mehr zuhören können. Es fällt mir deshalb schwer, ihn zu deuten und damit zu okkupieren - seine Stimme selbst soll den Raum des Sagens öffnen.
Paul Celan liest in Jerusalem/Cernowitz, Bukowina/Bukarest/Paris
09.10.1969, Jerusalem
Lesung des Gedichts „Corona“
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Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928Georges-Arthur Goldschmidt liest in Paris, Hamburg, Reinbek und Marbach
20.09.2005, DLA
Lesung „Mit dem Fahrrad durch Frankreich, 1949“
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Oskar Pastior
*20.10.1927, †04.10.2006Zwischen Wo und Wann
20.12.1990, Studio LCB
Lesung Wann-See-Gedicht
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Ein siebenbürgischer Nachmittag
20.12.1990, Studio LCB
Lesung „Jalousien aufgemacht”
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Herta Müller
*17.08.1953
Herta Müller liest in Nitzkydorf, Bukarest, Berlin
Herta Müller - Über das Hinauswachsen aus dem heimatlichen Dorf, das Hüten der Kühe und die Schönheit von städtischen Krankenschwestern
19.01.2005, DLA
Gespräch
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Yoko Tawada
*23.03.1960Yoko Tawada – Auch Sprachen sind Orte einer inneren Landschaft, die wir mit der Stimme bereisen können.
03.05.2000, DLA
Lesung Gedichte
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Melinda Nadj Abonji
*22.06.1968„Tauben fliegen auf“ – und mit ihnen die Archive der Erinnerung, die das Persönliche in dem Moment transportieren und freisetzen, in dem im Außen etwas zu Ende geht. 1980, Tito ist seit kurzem tot, aber der Anfang der eigenen imaginären Reise in das noch offene Selbst und in die inneren Bilder beginnt gerade. Und wird ein Buch.
12.01.2011, Basel
Lesung aus „Tauben fliegen auf“
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Die Orte, die Ankunft – woher wissen wir, wie etwas wirklich war? Melinda Nadj Abonji umkreist mit Verve die Leerstellen und scheut die Unsicherheit nicht – im Gegenteil, sie erlebt sie als Auskunft gebenden Schwebezustand, der ihr hilft zu erzählen, wie es vielleicht gewesen sein könnte.
12.01.2011, Basel
Gespräch über Leerstellen
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Elias Canetti
*25.07.1905, †14.08.1994Elias Canetti liest in Manchester, London, Wien, Zürich, Stuttgart
06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge“
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Hilde Domin
*27.07.1909, †22.02.2006Hilde Domin liest in Madrid, London, Heidelberg, Rom, Santo Domingo und Marbach
04.10.2004, DLA
Über die Entstehung ihres Dichternamens und Lesung
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Saša Stanišić
*07.03.1970
Saša Stanišić – Schelm und Architekt seiner literarischen Städte
Stanišić hat sich in seinem ersten Buch „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ auf die Suche nach einem verlorenen städtischen Kosmos gemacht. Schon der Anfang seines Buches zeugt von einer genuinen Liebe für die Menschen, die zwar Teil der erzählerischen (und autobiographischen) Vergangenheit sind, aber dennoch eine Art Museum der imaginären Gegenwart bilden, in dem Gagarin, Opa Slavkos Zauberhut, Titos Jugoslawien und der eine oder andere Verstorbene eine große Rolle spielen.
15.11.2006, Studio LCB
Lesung aus „Wie der Soldat das Grammofon repariert”
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Martin R. Dean
*17.07.1955Martin R. Dean – Die Arbeit der Erinnerung, Trinidad, Liverpool, Zürich, Heimweh und Fernweh – und das Aargauer Bett in den „Tropen der Sehnsucht“.
22.04.2015, Basel
Lesung aus „Verbeugung vor Spiegeln”
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Ilma Rakusa
*02.01.1946Ilma Rakusa – „das Unterwegskind“ sieht auf die Welt aus der inneren Stille heraus. Dabei formiert sich nicht nur die äußere Wirklichkeit für die Erzählerin, sondern auch ihr eigener innerer Blick. Ein tastendes Betrachten, dem Fragen zum Denken verhelfen, ist die Folge: Was ist jenseits der Grenze? Was geschieht, wenn die Fremdheit sich mit Nacht multipliziert? Ausgangspunkt hier ist Triest, eine der vielen Stationen in Ilma Rakusas früher Kindheit. Andere sind: Rimovska Sobota, Ljubljana, Zagreb, Budapest. Und später kommen Leningrad, heute Sankt Petersburg, Zürich, Berlin und Paris dazu.
10.12.2009, LCB
Lesung „Grenzen“ aus „Mehr Meer“
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10.12.2009, LCB
Lesung „Die Jahreszeiten“ aus „Mehr Meer“
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Heimaten
Alle AutorInnen, die hier zu Wort kommen, sind auf die eine oder andere Art Reisende. Hilde Domins Lebensstationen beispielsweise waren nicht immer freiwillig gewählt. Süddeutschland, Italien, England und schließlich die Dominikanische Republik sind Stationen im Spiegel eines unbarmherzigen Jahrhunderts. Dennoch gelang es ihr auch im erzwungenen Unterwegssein, die Fremdheit in dichterische Notwendigkeit zu verwandeln. So prägte sie nach dem Zweiten Weltkrieg den Satz von der Fremde als Heimat, dem sich der Titel dieser Station verdankt. Ist Heimat nur im Plural möglich?
Hilde Domin
*27.07.1909, †22.02.2006„Irgendwo in der Freiwilligkeit“, so Hilde Domin, hoffe sie, einmal Hannah Arendt zu treffen. Im Briefwechsel der beiden Frauen (1960 – 1963) kann man erkennen, dass sie, bei allen Unterschieden, eine Gemeinsamkeit haben: Beide verbindet eine Freundschaft mit Karl Jaspers und beide verstehen, dass es „überall wackelig“ aussieht – wie es Hannah Arendt einmal formuliert. Das Denken, das Schreiben als einzige beständige Behausung?
Briefwechsel zwischen Hilde Domin und Hannah Arendt
Melinda Nadj Abonji
*22.06.1968Melinda Nadj Abonji nimmt zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen über das Fremde das Jahr 1914, in dem sie den Beginn der „Ideologie der Nationen“ verortet, ein Faktum, das dem Menschen das eigentliche Menschsein wegnimmt, indem es ihn seiner Diversität beraubt. Die Lüge beruhe dabei auf dem Rekurs auf das Identische, das Gleiche, die nationale Identität. Aber kein einziger Mensch sei so wie der andere. Das Leben selbst als die eigentliche Heimat des Menschen.
Basel, eine Veranstaltung mit Martin R. Dean
22.04.2015, Basel
Essay-Lesung „Fremderregung”
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Aglaya Veteranyi
*17.05.1962, †03.02.2002Aglaya Veteranyi kam 1962 in Bukarest zur Welt – als Kind lebte sie im Zirkus mit ihrer Artistenfamilie, bevor ihnen gemeinsam die Flucht aus Rumänien in die Schweiz gelang. Aber weder die Zeit noch die neue Heimat vermögen zu wärmen. Heimat gibt es nicht für immer, im Singular ist sie ohnehin verdächtig. Die Erzählerin erdichtet sich im Meer eine imaginäre Lebenskonstante, das Wassermotiv wirkt von heute aus gesehen unheimlich – Veteranyi nahm sich 2002 durch Ertränken im Zürichsee das Leben. 1977, bei ihrer Ankunft in der Schweiz, soll sie nahezu Analphabetin gewesen sein. „Ich war nicht dafür vorgesehen, in der Außenwelt zu bestehen, sondern im Zirkus zu arbeiten“, sagte sie einmal in einem Interview. Ihre Sprache zeugt aber von genau dieser Kraft. Manchmal sind die Menschen genau für das vorgesehen, was man ihnen wegnehmen will. Manchmal fehlt jemand, der ihnen im Sinne Herta Müllers ein Taschentuch gibt – aber selbst dann kann niemand die „akute Einsamkeit des Menschen“ löschen, sie ist eine existenzielle Mitspielerin. Wie aber kann man mit anderen überhaupt leben, wenn man den eigenen Mund weggeworfen hat? Wo kann dieser Ort sein? Kann es ihn überhaupt geben?
01.09.2000, LCB
Lesung aus „Warum das Kind in der Polenta kocht“
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Martin R. Dean
*17.07.1955Martin R. Dean musste sich, wie er sagt, Festland erschreiben. Der Weg vom Wasser aufs Land ist in seinem Fall nicht nur eine Metapher für das Schreiben. Geboren ist Dean 1955 im Schweizer Menziken als Sohn eines aus dem Trinidad stammenden Arztes und einer Schweizerin. Die Vaterinsel und das Mutterland lehren ihn die inneren Reisen, die er für seine schriftstellerische Arbeit in seinen Büchern verwandeln und weiterschenken kann, weiterreichen – an seine literarischen Figuren. In seinem Essay „Verbeugung vor Spiegeln“ denkt er über das Fremde und das Eigene nach. Der Kampf gegen das Fremde führe, so Dean, zu einem Verlust an Innenraum. Das verflüssigte Festland seiner Suche ist einem supranationalen Blick geschuldet, es ist ein großzügiger Blick, ein Blick aufs ganze Leben.
22.04.2015, Basel
Lesung aus „Verbeugung vor Spiegeln”
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Ilma Rakusa
*02.01.1946Ilma Rakusa kennt keine Heimat im Singular, es sind die kleinen Dinge, Gerüche und Farben, die sie als Durchreisende intensiv erlebt. Allein die inneren Sprach-Listen, die Aufzählungen des Wahrgenommenen, des so Erlebten können so etwas wie Heimatgefühle bei ihr wecken.
10.12.2009, LCB
Gespräch über Heimatgefühle
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Die Kälte der Zeitgenossenschaft
Die Kälte der Zeit zeigt sich am nachdrücklichsten in Kriegen, in denen Wärme und Menschlichkeit im feurigen Hass, in Ablehnung des anderen kanalisiert werden. Der Krieg hat den Zusammenbruch jeglicher zivilisatorischer Errungenschaften zum Ziel. Aber es sind immer Einzelne, die mit ihrer Stimme diesem Ziel zuarbeiten oder sich innerlich auflehnen. An kleinen Szenen lassen sich die großen Strukturen ablesen. Als etwa der Erste Weltkrieg ausbricht, gerät der zehnjährige Elias Canetti in einen großen Konflikt. Die englische Sprache, die er liebt, wird plötzlich im deutschsprachigen Umfeld verdächtig. Sein Gegenüber sind zunächst Gleichaltrige, bevor er mit dem Phänomen der Masse in Berührung kommt. Hier zeigt sich ihm bereits die Destruktion des Krieges. Abgrenzung. Hass. Verstoß. In eine Sprache der Unerbittlichkeit. In einer Sprache der Zerstörung. Der Masse. Der Kaltstellung. Was vom Leben nach den Kriegen bleibt und erinnert werden kann, schöpft seine Essenz aus dem tief Erlebten, dem Erlittenen, dem genau Wahrgenommenen. Ein „bitterer Boden“ der Geschichte (Danilo Kiš), aus dem Literatur entsteht.
Elias Canetti
*25.07.1905, †14.08.1994Elias Canetti – Plötzlich ist Englisch unerwünscht
06.10.1978, Stuttgart
Lesung „Ausbruch des Krieges“
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Hilde Domin
*27.07.1909, †22.02.2006Lebensstationen zwischen Italien, England und der Dominikanischen Republik
04.10.2004, DLA
Gespräch
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Herta Müller
*17.08.1953Herta Müller – Diktatur und Demokratie, Über die politische Artikulation des Autors
27.04.2011, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Herta Müller
*17.08.1953„Alle Menschen brauchen Poesie“ – Herta Müller
18.06.2006, LCB
Gespräch
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Gila Lustiger
*22.04.1963Gila Lustiger untersucht Danilo Kiš’ Erzählprinzip (das interessanterweise an manchen Stellen mit jenem von Georges-Arthur Goldschmidt korrespondiert, aber auch Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Schreiben aufweist). Kiš gehe in seiner Literatur, so Lustiger, einen bewusst gewählten Weg des Scheiterns, zögernd, schwankend – wie sein in Auschwitz ermordeter Vater, den er genauso in seinem Roman „Garten, Asche“ beschreibt: als durchweg menschliche Figur, zitternd, lächerlich, in die Einsamkeit und das Alleinsein gestoßen. (Die Zitate, die Lustiger einbringt, stammen aus der Übersetzung von Ilma Rakusa.) Zweifelnd setze Kiš sein Werk über den Fluss Lethe. Die abgedunkelte Vergangenheit, seine frühen Verluste, sein mitteleuropäisches jüdisches Schicksal und die Verdrängungen seiner eigenen Zeit im kommunistischen Jugoslawien (nicht zu vergessen – die überall sichtbare metaphysische Schwärze) sind Voraussetzung für seine Wahrnehmung und Poetik der Erinnerung.
Die Masse der Dokumente und die Literatur
28.09.1998, LCB
Vortrag I
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Das Gift der Erinnerung – die verschwundene Welt des mitteleuropäischen Judentums
28.09.1998, LCB
Vortrag II
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Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928Deutschland, 1949 – eine Zugfahrt. Goldschmidt kommt aus Frankreich, wo er als Jude den Krieg überleben konnte und bezeichnet sich selbst als einen peinlichen Überlebenden.
20.09.2005, DLA
Lesung aus „Über die Flüsse“
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Ruth Klüger
*30.10.1931Ruth Klüger – Filter der Erinnerung
07.09.1994, DLA
Lesung aus „weiter leben“
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Oskar Pastior und Herta Müller schrieben anfangs zusammen an einem Roman, den sie vorerst „Hungerengel 1, 2, 3“ nannten. In einer relativ frühen Phase der Entstehung erzählen sie in der Begegnung mit Helmut Böttiger im LCB am Wannsee über den Schreibprozess des Buches, für das Herta Müller später und nach Pastiors Tod den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte. Das Buch wurde unter dem Titel „Atemschaukel“ publiziert.
Zum Zeitpunkt dieser Veranstaltung wusste niemand von Oskar Pastiors Spitzeltätigkeit für die Securitate. Erst nach dem Tod von Oskar Pastior tauchte seine IM-Akte auf. Manche Formulierung im Gespräch mit Herta Müller lässt den Zuhörer aufgrund dieser, von heute aus gesehen, nachträglichen Referenz, zusammenzucken, etwa, wenn der Dichter sagt, er habe nie gemogelt. An diesen Stellen verweigert sich ihm auf eine eigenartige Weise die Sprache, ja, sie lässt ihn in der Verlangsamung nahezu stolpern, ihn, der sonst das Versehen, Verstehen, Drehen und Wenden der Sprache zu seinem großen artistischen Metier gemacht hatte. Daran ist etwas gleichermaßen Verstörendes wie Beruhigendes: Die Sprache selbst übernimmt die Regie und gibt in beide Richtungen Auskunft. Nicht zuletzt durch die luziden Rückfragen des Moderators ist bezeichnenderweise die ganze Zeit von Verdrängungsprozessen jedweder Art die Rede. Herta Müllers Wohlwollen ist vor dem Hintergrund dieser schwerwiegenden Auslassung ihres Freundes besonders markant. Trotz der Freundschaft, die die beiden verband, fand nie ein Austausch über Pastiors Spitzeltätigkeit statt.
So wird deutlich, dass und auf welche Weise die Auslassung die schlimmste Form von Lüge werden kann, wie sie Simone de Beauvoir beschrieben hat. Dennoch bleibt Oskar Pastiors eigene Deportation, seine Not, seine Ausgesetztheit sichtbar und zeigt sich sogar noch genauer im Wissen um sein eigenes Tun. Herta Müller wurde später gefragt, ob dieses neue Wissen ihr Bild des Menschen Pastior verändere. Sie antwortete: „Es ergänzt das Bild. Ich beurteile den IM Pastior mit denselben Kriterien wie andere IM aus meiner Akte. Aber ich komme dabei zu einem anderen Fazit. Wenn Pastior noch leben würde, würde ich jedes Mal, wenn ich zu ihm käme, insistieren, dass er seine Akte lesen und selbst darüber schreiben soll. Aber jedes Mal würde ich ihn dabei in den Arm nehmen.“
Helmut Böttiger stellt seine Gäste vor und verortet die historische Situation, in der Oskar Pastior sein „Lagerrussisch“ lernte, ein Terminus, der in seiner dichterischen Arbeit immer wieder auftaucht. Und Herta Müller berichtet von ihrer Mutter, die das gleiche Schicksal wie Pastior erlitt und für fünf Jahre deportiert wurde. (Dieses Gespräch fand nur wenige Monate vor Oskar Pastiors Tod im LCB am Wannsee statt).
18.06.2006, LCB
Im Gespräch mit Helmut Böttiger
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Oskar Pastior erzählt von den drei vollgeschriebenen Heften nach seiner Lagerhaft
18.06.2006, LCB
Gespräch
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Hungerengel 1, 2, 3: Lesung von Herta Müller und Oskar Pastior
18.06.2006, LCB
Lesung aus „Hungerengel“
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Oskar Pastior
*20.10.1927, †04.10.2006„Das Staunen, dass ich nie nie nie nicht gemogelt habe in diesen sechzig Jahren“ – Oskar Pastior
18.06.2006, LCB
Gespräch
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Saša Stanišić
*07.03.1970Saša Stanišić recherchierte in Bosnien für sein Buch „Wie der Soldat das Grammofon repariert“. Ihm war bewusst, dass er sich in einer Nachkriegszeit bewegt und, so erläutert es Maike Albath, die Moderatorin der Veranstaltung, geographisch in einem Raum, in dem es ethnische Säuberungen gegeben hatte. Die Menschen mussten innerhalb kürzester Zeit ihre Heimat verlassen. Tausende bosnische Muslime wurden ermordet. In Srebrenica starben an einem einzigen Tag 8000 Männer. Wie reagierte Stanišić’ Familie? Ein Buch, das sich manchmal sehr nah an der Wirklichkeit bewegt, stellt in einer solchen Situation alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen. Stanišić gelingt der Übergang von einem todernsten Thema zum Humor mühelos - wie es typisch für ihn ist.
15.11.2006, LCB
Gespräch mit Maike Albath
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Sprachbiographien
Menschen wandern nicht nur in neue Sprachen ein, sie kehren auch in alte und erste Sprachen zurück. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür – die neuen Sprachen genügen nicht oder reichen nicht an die Lücken der Vergangenheit heran oder lösen eine Pendelbewegung aus. Oft tritt Verstummen ein, ein Aufgeriebenwerden zwischen den Sprachen. Und dennoch entsteht gerade so ein Gedächtnis, das im Schreiben geöffnet wird oder das sich als Gefängnis erweist (im erzählten Text kann auch das eine Öffnung sein). So oder so ist es oft erstmalig Selbstgewähltes, aus der historischen oder persönlichen Distanz heraus. Die Schnittstellen zwischen Sprache und Schweigen sind oft von der Abwesenheit von etwas oder jemandem geprägt, eine Prägung, die sich beispielsweise weder Ruth Klüger noch Elias Canetti willentlich ausgesucht haben. Auffällig oft spielen Vaterfiguren eine entscheidende Rolle. Vielleicht weil sie in den hier aufgespürten und erhörten Fällen eine Lücke darstellen, die gefüllt oder umkreist werden muss und unwiderbringlich mit der Sprache verbunden bleibt. Trotz allem – ein Fragment. Das in der Schreibsprache zur Brücke wird. Für ein mögliches Bild. Für eine mögliche Erzählung. Für ein Finden. Erkennen. Und Verlieren, als ein besseres Finden.
Elias Canetti
*25.07.1905, †14.08.1994Über seinen Vater nach der Emigration in England, der die Sätze in der neuen Sprache manchmal laut aufsagte und wiederholte, bis sie gut klangen.
06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge“
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Gila Lustiger
*22.04.1963
„Das neue Wort wird das Grab des alten“ - Über den ungarisch-jugoslawisch-jüdischen Schriftsteller Danilo Kiš, der in seinem Buch „Garten, Asche“ (übersetzt aus dem Serbokroatischen von Ilma Rakusa) seinem in Auschwitz gestorbenen Vater ein weltliterarisches Denkmal setzte und seitdem Generationen von Schriftstellern in unterschiedlichsten Ländern inspirierte. Gila Lustigers Biographie wiederum ist unabänderlich mit der ihres eigenen Vaters verbunden: mit Arno Lustiger, dem Frankfurter deutsch-jüdischen Historiker. Er spielt in ihrem autobiographischen Roman „So sind wir“ eine zentrale Rolle. Aber nicht, wie bei Canetti, Kiš, Goldschmidt und Klüger als eine Lücke in der eigenen Erinnerung, sondern als ein konkreter Mensch, „der sein Leben im Zeitalter der Extreme“ retten konnte – ein Lebender. 2005 schrieb sie über diesen Lebenden ihr Buch. Aber bereits 1998 hielt sie ihren Vortrag über Danilo Kiš, der, genauso wie sie selbst, Frankreich zu seiner Wahlheimat machte, im gleichen Pariser Viertel wie Georges-Arthur Goldschmidt lebte und dort viele Jahre seiner Muttersprache treu blieb. Kiš schrieb Serbokroatisch, Gila Lustiger, die 1963 in Frankfurt am Main zur Welt kam, verfasst ihre Bücher auf Deutsch und lebt seit 1987 in Paris.
Um den Prozess der Erinnerung zu verdeutlichen, greift sie auf das Prinzip des Palimpsests zurück, von dem Danilo Kiš immer wieder spricht – als eine Art selbsttätiges Archiv der Erinnerung, als maximale Ausdrucksform, offen und durchlässig, auf die Freiheit und Überzeitlichkeit des Gedächtnisses ausgerichtet.Auf den Platz des Einzelnen im Ganzen. Auf das Ganze im Einzelnen. Der Autor erscheint hierbei als Enzyklopädist.
28.09.1998, LCB
Vortrag I
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28.09.1998, LCB
Vortrag II
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Ruth Klüger
*30.10.1931„Das Gedächtnis ist eben auch ein Gefängnis, man rüttelt umsonst an den in der Kindheit geprägten Bildern. So verführen gerade die genauesten Erinnerungen zur Unwahrheit ...“
07.09.1994, DLA
Lesung aus „weiter leben“
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Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928Georges-Arthur Goldschmidt über seinen Vater, der viel gezeichnet hat und bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt auch nur das tun konnte, da er seine Arbeit als Oberlandesgerichtsrat verloren hatte. Goldschmidt berichtet, auf welche Weise er das Sehen von seinem Vater gelernt hat.
06.06.2014, DLA
Gespräch
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Elias Canetti
*25.07.1905, †14.08.1994Elias Canetti - die deutsche Sprache, unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache
06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge
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Hilde Domin
*27.07.1909, †22.02.2006Hilde Domin – Vaterland oder Mutterland? Für Hilde Domin ist die deutsche Sprache für immer an die Mutter gebunden – ihr „letztes unabnehmbares Zuhause“, das sie, beginnend mit einem Zitat von Heinrich Heine, erläutert.
04.10.2004, DLA
Lesung und Gespräch
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Saša Stanišić
*07.03.1970Saša Stanišić im Gespräch mit Maike Albath: Listen in deutscher Sprache, Reisen im Außen und in der eigenen Erinnerung. Kann man jemals an den Ort der eigenen Kindheit zurückkehren? „Man kehrt gar nicht zurück, man kommt da neu hin.“
15.11.2006, Studio LCB
Gespräch mit Maike Albath
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Melinda Nadj Abonji
*22.06.1968Die auf Etymologie zurückgreifende Arbeit an der Sprache und am Bewusstsein in Nadj Abonjis Text „Fremderregung“ bezeichnet der Moderator dieses Abends in einem Nebensatz als einen „spielerischen Trick“ der Autorin. Sie widerlegt aber diese Behauptung mit beeindruckender Klarheit und Folgerichtigkeit. Dabei gelingt ihr sogar ein Plädoyer für die Erkenntniskraft des Pathos.
22.05.2015, Basel
Essaylesung „Fremderregung“ II
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Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928Wie kam es dazu, dass er sich selbst vom Französischen ins Deutsche übersetzte? Der Moderator erläutert die Sprachbewegung bzw. die Arbeitsweise des Schriftstellers, der sein Buch „Über die Flüsse“ im Grunde genommen zwei Mal geschrieben hat.
20.09.2005, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Angst vor dem Abitur in deutscher Sprache
06.06.2014, DLA
Gespräch
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Ruth Klüger
*30.10.1931
Ruth Klüger – Bücher, Sprache, die Arbeit der Erinnerung. An der Stelle von Verwandten. An der Stelle von Menschen.
Am 27. Januar 2016 hielt Ruth Klüger in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus eine vielbeachtete Rede in deutscher Sprache (angekündigt wurde sie als US-amerikanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin), in der sie ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin mit der aktuellen politischen Situation der Flüchtlinge in Verbindung brachte. Das Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, habe heute, so Klüger, den Beifall der ganzen Welt gewonnen – „dank seiner geöffneten Grenzen und der Großzügigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind.“
07.09.1994
Lesung aus „weiter leben“
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Melinda Nadj Abonji
*22.06.1968Melinda Nadj Abonji beleuchtet das Wort „fremd“ – „Ausblick und Etymologie“, eine Vorgehensweise, die schon Julia Kristeva in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“ Ende der achtziger Jahre zu der wieder wichtig gewordenen Frage geführt hat: „Auf welche Weise kann man Fremder sein?“
22.05.2015, Basel
Essaylesung "Fremderregung" I
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Katja Petrowskaja
*03.02.1970Katja Petrowskaja über ihr Buch „Vielleicht Esther“, in dem sie nach eigener Aussage Schmuggel verschiedener Art (Worte, Orte, Situationen) betreibt. Das Buch, so die Autorin, habe nicht nur ein deutschsprachiges Publikum erreicht, sondern es habe auch in ihrem Erleben, als es dann in ihrem Geburtsland übersetzt wurde, auf eine besondere Weise auch die ukrainischen Leser berührt. In einer historisch bedeutsamen Situation sei es dem dortigen Publikum eher möglich gewesen, sich auf ein aus dem Deutschen als ein aus dem Russischen übersetztes Buch einzulassen.
07.04.2016, DLA
Gespräch
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Elias Canetti
*25.07.1905, †14.08.1994Elias Canetti – Shakespeare auf Englisch, Schiller auf Deutsch
06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge“
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Paul Celan
*23.11.1920, †20.04.1970Ilma Rakusa
*02.01.1946Ilma Rakusa – in mehreren Sprachen beheimatet, nicht nur als versierte Sprecherin. Sondern auch als Sammlerin der Klänge und als schöpferische Spracharbeiterin. Und als literarische Übersetzerin aus dem Ungarischen, Serbokroatischen, Russischen, Slowenischen und Französischen. Im Gespräch mit Christina Weiss umkreist sie die Bedeutung von Vielsprachigkeit und sieht in ihr eine Öffnung der Welt.
10.12.2009, LCB
Gespräch I mit Christina Weiss
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Über das Französische und das Russische – Eleganz und Zärtlichkeit
10.12.2009, LCB
Gespräch II mit Christina Weiss
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Was macht das Übersetzen mit dem Übersetzer? Ilma Rakusa erläutert u.a. Imre Kertesz' Arbeit als Übersetzer von Nietzsche – wie philosophisch ist eigentlich das Ungarische?
07.04.2016, DLA
Gespräch
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„Ob Zwang oder Wahl, psychologische Entwicklung oder politisches Schicksal, diese Situation, verschieden, anders zu sein, kann als Krönung der menschlichen Autonomie erscheinen (sind wir nicht allein unter der Bedingung sprechende Wesen, dass wir uns von den anderen unterscheiden und ihnen, ausgehend von dieser wahrgenommenen und akzeptierten Unterschiedenheit, unseren persönlichen Sinn übermitteln?) und damit als herausragende Illustration des Wesentlichsten, Grundlegendsten, das die Zivilisation aufzuweisen hat. Auf der anderen Seite fordert der Fremde, indem er ausdrücklich, sichtbar, ostentativ den Ort der Differenz besetzt, ebenso seine eigene Identität wie die der Gruppe heraus, eine Herausforderung, die wenige unter uns fähig sind anzunehmen.“ (Julia Kristeva)
Georges-Arthur Goldschmidt
*02.05.1928Georges-Arthur Goldschmidt über das Französische und die Arbeit an seinem Buch „Als Freud das Meer sah“, eine Auseinandersetzung mit seinen beiden Lebenssprachen – fast eine Selbstauskunft.
20.09.2005, DLA
Gespräch
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Hilde Domin
*27.07.1909, †22.02.2006Hilde Domin über ihre Landung in der Dominikanischen Republik und die Beziehung zum Spanischen, das sie, zusammen mit ihrem Mann Erwin Walter Palm, mit den Gedichten von Federico García Lorca zu erlernen begann. Wie es dazu kam, berichtet sie in einem assoziativen Rückblick.
04.10.2004, DLA
Gespräch
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Michael Ryklin
*06.01.1948Michael Ryklin – russischer Philosoph, lebte und lehrte in Frankreich und in den USA, nun ist er in Berlin zu Hause. Ryklin ist selbst Übersetzer etwa von Roland Barthes und Claude-Lévi Strauss ins Russische und findet, dass die Muttersprache überschätzt wird, sie sei etwas Relatives. Er beschreibt, wie sich einzelne Lebens- und Denksprachen auf die erste Sprache auswirken können. Jan Bürger will wissen, ob unsere Gewohnheit, von der Muttersprache zu sprechen, eigentlich noch zeitgemäß ist – eine in unserer Zeit immer wichtiger werdende Frage, mit der sich schon seit Jahren (und aus unterschiedlichen Perspektiven) auch Julia Kristeva beschäftigt, die in diesem Zusammenhang, den Ausführungen Ryklins gemäß, in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“ von einem „verstreuten Selbst“ spricht.
07.04.2016, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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