Die Unendlich­keit der Sprache

Aus-, Ein- und Rückwanderungen

Zwischen poetischer Anrufung und der Kälte der Zeitgenossenschaft liegen nicht nur viele Denkstationen und Versehen / Verstehen der Sprache, sondern auch ganze Buchstabenbiographien polyglotter Wörtermenschen. Aus ihren Texten und Lebenserfahrungen lässt sich eine weitverzweigte Weltlandkarte zeichnen. Die Arbeitsweise mit verknüpften Sinnen ist oft genug alchemistisch, auf die Synthese ausgerichtet. Eine Sprache ohne Verschmelzungen und Verwandlungen ist nicht vorstellbar. Das einzelne Leben, die einzelne Biographie ist immer mit dem Imaginären verbunden, das Imaginäre ist immer ein bisschen autobiographisch. Die geheimen Verbindungen zwischen beiden führen regelrecht zu einer Schule des Sehens. Manchmal erfahren wir, dass unsere Handschrift (als ausführendes Denkorgan unserer Sprache) alles über uns weiß. Das kann beunruhigen. Dieses Archiv der Sprache, das an das Schicksal des Menschen gekoppelt ist, ist oft genug missbraucht worden. Georges-Arthur Goldschmidt etwa vermochte in eine Sprache, die ihn eliminieren wollte, zurückzukehren und in ihr sein Leben und die ihm zugrundeliegenden Themen (Zeichen) zu umkreisen. Die erste Sprache seines Lebens ist in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für viele die zweite Sprache geworden. Manche haben sie gewählt, andere hatten keine Wahl und tragen zwei Muttersprachen mit sich herum. Unmöglich? Warum? Ist Muttersprache in unserer Zeit überhaupt eine verlässliche Kategorie? Der russische Philosoph und Schriftsteller Michael Ryklin findet, dass Muttersprache „relativ“ ist. Für Hilde Domin war die deutsche Sprache hingegen ihr „letztes unabnehmbares Zuhause“, eine bleibende Konstante im Zeitalter barbarischer Extreme – sie inspirierte mit ihrer Aussage viele im Transit schreibende Menschen, unter anderem den aus China stammenden und in englischer Sprache schreibenden Ha Jin, der ein ganzes Buch über den ausgewanderten Autor geschrieben hat. Das Menschlichste am Menschen sei die Sprache, heißt es einmal bei Heinrich Böll. Es gibt kein Menschsein ohne Verletzlichkeit und eine Sprache, die nicht genau das spiegelt, kann es erst recht nicht geben. Die Sprache zittert, weil die Idylle zittert. Immer. Die Sprache zeichnet das Ganze seismographisch auf. Sie ist ein lebendiges Palimpsest. Alle Schichten der Sprache gehen und reden immer mit. Zeitgleich. Selbst dann, wenn wir glauben, dass die Urgründe schweigen, erzählen sie unser im Unsichtbaren verknüpftes Leben, wie es Gila Lustiger in ihrem Vortrag über das literarische Arbeitsverfahren von Danilo Kiš aufzeigt. Die Freiheit und die Unendlichkeit der Sprache gibt es nur, weil es ihre Begrenzung gibt. Das eigenartige Paradox ist, dass gerade die Begrenzung die Öffnung zum Größeren erlaubt. Verknüpfte Sinne. Sie sind die Farben unter den Erzählern. Warum ist die Welt dabei Klang? Und welche Rolle spielen die Farben in Verbindung mit Buchstaben, mit Worten, mit Sprache? „Es gibt keine Geschichte des Wortes“ heißt es einmal bei Edmond Jabès, “aber unabwandelbar die Geschichte des Schweigens. Das Wort ruft sie in Erinnerung.“ Und wenn alles Übersetzung (aus diesem Schweigen) ist, ist vielleicht auch alles „Sternensprache“ im Sinne von Velimir Chlebnikov, auf den sich hin und wieder Oskar Pastior berufen hat. Nie aber ist Sprache einstimmig. So oder so murmelt in ihr immer alles Geschehene und alles Zukünftige mit. Welche Rolle kann Nationalität hierbei überhaupt spielen? Vladimir Nabokov hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Ich habe schon als Schuljunge in Russland die Meinung vertreten, dass die Nationalität eines Schriftstellers, der das Lesen lohnt, von zweitrangiger Bedeutung ist. Je charakteristischer das Aussehen eines Insekts, desto weniger wird der Taxonom geneigt sein, als erstes auf die Angabe des Fundortes unter dem aufgesteckten Exemplar zu schauen, um zu entscheiden, welcher von einigen nur ungefähr beschriebenen Rassen es zugeordnet werden sollte. Der wahre Pass eines Schriftstellers ist seine Kunst. Seine Identität sollte an einem besonderen Muster oder einer einzigartigen Färbung sofort zu erkennen sein.“ (So denkt ein „ganz normales dreisprachiges Kind“.)

Die Unendlichkeit der Sprache

Die Unendlich­keit der Sprache

„Alles fängt an mit der Unendlichkeit der Sprache“, heißt es in den Hamburger Vorlesungen von Georges-Arthur Goldschmidt. In nur diesem einen Satz, bezeichnenderweise ist es ein Anfangssatz, ist Raum für eine ganze Welt – und für ihre Unzulänglichkeiten, für die (menschliche) Stimme und für die Stummheit, für erste und letzte Erfahrungen, für das Leben und für den Tod, für die innere und für die äußere Zeit, für Farben und Elemente, für Herzen und Galgen, für sichtbar bleibende Narben, für das Gedächtnis und für das Scheitern an ihm, für den Geruch und, wie es Ruth Klüger einmal notiert, für Geruchserinnerungen. Wahrnehmung stellt die Welt her. Erbaut sie. Und Sprache versucht, Spuren in sie zu legen. Fährten. Ein paar Wiesen dazwischen. Wege. Die in den Worten sichtbar werden. Das Selbstsein. Aber. Ist es je beweisbar? Was sagen Stimmen?

Paul Celan

Paul Celan

*23.11.1920, †20.04.1970

09.10.1969, Jerusalem
Lesung „Stimmen“
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Herta Müller

Herta Müller

*17.08.1953

Gedichtcollage von Herta Müller an Oskar Pastior

Herta Müller im Gespräch mit Jan Bürger – Collagen, warum?

19.01.2005, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Georges-Arthur Goldschmidt: Die Schreibspanne. Hamburger Poetikvorlesungen 1995.

Georges-Arthur Goldschmidt: Die Schreibspanne. Hamburger Poetikvorlesungen 1995.

Oskar Pastior

Oskar Pastior

*20.10.1927, †04.10.2006

20.12.1990, Studio LCB
Lesung
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Aglaja Veteranyi

Aglaja Veteranyi

*17.05.1962, †03.02.2002

Spricht Gott fremde Sprachen? Kann er auch Ausländer verstehen? Oder sitzen die Engel in kleinen gläsernen Kabinen und machen Übersetzungen?

01.09.2000, LCB
Lesung aus „Warum das Kind in der Polenta kocht“
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Synästhesie: Verknüpfte Sinne, alchemistisch

Synästhesie: Verknüpfte Sinne, alchemis­tisch

„Ich glaube, ich bin als Maler zur Welt gekommen – im Ernst! –. Und bis ungefähr zu meinem vierzehnten Lebensjahr habe ich die meiste Zeit am Tag mit Zeichnen und Malen verbracht, und es war ausgemachte Sache, dass ich zu gegebener Zeit Maler werden würde. Aber ich glaube nicht, dass ich da wirklich nennenswertes Talent habe. Hingegen Sinn für Farben, das hatte ich allemal, mein ganzes Leben lang – und außerdem besitze ich noch eine ziemlich ausgefallene Gabe, Buchstaben farbig zu sehen. Man nennt das Farbenhören. Von tausend Menschen hat das vielleicht einer. Allerdings habe ich mich von psychologischer Seite belehren lassen, dass die meisten Kinder diese Fähigkeit besitzen, sie jedoch später wieder verlieren, wenn sie von bornierten Eltern zu hören bekommen, dass das alles bloß Quatsch ist – ein A ist nicht schwarz, ein B nicht braun, red’ nicht solchen Unsinn. (...) Quarzrosa – Das kommt der Farbe, die sich für mich mit dem V verbindet am nächsten. Das N wiederum ist von einer gräulichbräunlichen Hafermehlfarbe. Und nun kommt etwas Lustiges: Meine Frau besitzt ebenfalls diese Gabe, Buchstaben in Farbe zu sehen, aber bei ihr sind es ganz andere Farben. Es gibt da vielleicht zwei, drei Buchstaben, bei denen wir übereinstimmen, aber sonst sind unsere Farben vollkommen verschieden.“ (Vladimir Nabokov)

Walter Benjamin, Vladimir Nabokov, Marcel Proust, Else-Lasker Schüler und Georg Trakl – die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Marleen Stoessel (selbst eine Sinnverknüpfte) geht davon aus, dass diese Schriftsteller alle Synästhetiker waren. Nur wenige Menschen, sieht man von der emotionalen Synästhesie ab, sind genuine Synästhetiker, jemand also, der die Welt vollständig mit verknüpften Sinnen wahrnimmt. Aber bei fast allen Menschen kann es zu emotionalen und bildhaften Verknüpfungen im eigenen Welt-Erleben kommen. Die Sprache transportiert diese Tiefendimension der Empfindungen, die innen verbunden ist und die in der Außenwelt wieder getrennt werden. Bleibt die Sprache, der Klang, das Bild im Inneren, während sie im Außen manifestiert werden, wird die Ganzheit gewahrt. In diesem Sinne, schreibt Marleen Stoessel empathisch, könne der Synästhetiker immer nur ein Weltbürger sein, „ja Weltenbürger, ein Nomade dieser Welten, ihrer Grenzen und Überschreitungen (...). Nicht nur neue oder andere Synapsen im Gehirn, sondern auch einen weiteren Blick, eine weiter gefasste Humanität kann man durch sie kennenlernen.“ Diese andere Form von Humanität wird durch das poetische Wort, durch seine Nacktheit und Unverkäuflichkeit (es verkauft sich nicht einmal an das Äußere, bleibt auch auf seinem Weg in die Stimme in sich selbst beheimatet - verknüpft) in die Welt gegeben und beweist gleichzeitig ihr Vorhandensein im Zustand der Verschmelzung.

Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Die Farbe Rot löst Canettis früheste Erinnerung aus – und damit sein ganzes Werk.

"Die gerettete Zunge" (Auszug S.9f)

Foto Elias Canetti

Hilde Domin

Hilde Domin

*27.07.1909, †22.02.2006

Hilde Domin - Die äußere Welt, voller Erschütterungen, bietet keine Gewissheiten – alles wird nach innen genommen, die Sinne überlappen sich und ein „längst erloschenes Lächeln“ ist ein begehbarer Weg, ein Weg in der Sprache.

28.10.1960
Hilde Domin: „Fremder“, Kopie eines Vorabdrucks aus „DIE ZEIT“

Michael Hamburger

Michael Hamburger

*22.03.1924, †07.06.2007
Peter Waterhouse

Peter Waterhouse

*24.03.1956

Grün als synästhetisches Medium der Sinnfindung

01.06.1994, DLA
Lesung „Garden. Wilderness“ (Englisch und Deutsch)
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Ilma Rakusa

Ilma Rakusa

*02.01.1946

Aufzählungen verknüpfen unterschiedliche Wahrnehmungsebenen miteinander und zeigen auf, dass unsere Erinnerungs- und Bewusstseinsarbeit immerzu auf Listen zurückgreifen und so Schöpfungen in unserer Sprache manifestieren kann. Ilma Rakusa sieht in Listen ein literarisches Verfahren, die Welt auf möglichst knappem Raum zu erzählen. Dazwischen: die Arbeit der Stille.

10.12.2009, LCB
Gespräch mit Christina Weiss
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Cover Ilma Rakusa - Münchener Rede zur Poesie

Ilma Rakusa

Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Georges-Arthur Goldschmidt – „All diese vielfarbigen und ein wenig naiven (deutschen) Wörter“

20.09.2005, DLA
Lesung aus „Über die Flüsse“
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2012, Finnegan`s List
Die französische und die deutsche Sprache

Oskar Pastior

Oskar Pastior

*20.10.1927, †04.10.2006

Bauen mit den Sinnen – Oskar Pastiors „akustische Bauwerke“

20.12.1990, Studio LCB
Lesung „Rotation”
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Klaus Ramm erläutert engagiert, was an der Klanglichkeit von Oskar Pastior widerständig ist und welche Verbindung er zur Biographie des aus dem Banat stammenden Dichters sieht.

20.12.1990, Studio LCB
Klaus Ramm über Oskar Pastior
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Die rätselhaften Verknüpfungen in Pastiors Sprachen machen den Moderator ratlos, er will verstehen, was ein SONETBURGER ist oder was es mit dem KRIMGOTISCHEN auf sich hat. Oskar Pastior antwortet mit einem Text, in dem die Alchemie jenseits der Schiene von Einseitigkeit eine große Rolle spielt:

20.12.1990, Studio LCB
Lesung und Gespräch
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H.C. Jenssen: „A wird eintreten...“
Autor: Oskar Pastior, 1993

Yoko Tawada

Yoko Tawada

*23.03.1960

Schwankende Setzungen, Bettbefehle, Stellen, an denen es schweigt und dunkelt: Unterhaltungen suprasinnlicher Wortakrobatik – „im Traum isst man keinen Kuchen, selbst wenn es regnet.“

03.05.2000, DLA
Lesung I: Gedichte
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„Irrtümer, die Ammoniak enthalten“ - mit verknüpften Sprachsinnen von Metamorphose zu Metamorphose

03.05.2000, DLA
Lesung II: Gedichte
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Versehen, Verstehen der Sprache

Versehen, Verstehen der Sprache

Im Stolpern erweist sich manchmal die Klarheit für den nächsten Schritt – und der Weg wird sichtbar, auf dem wir gehen. So gibt es Versehen in der Sprache, die etwas sichtbar machen, was nicht beabsichtigt war und dennoch (obzwar objektiv falsch) von einem tieferen Verstehen zeugen, an das die Sprache wie an ein unsichtbares Stromnetz angebunden ist.

Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Elias Canetti spricht von Manchester als seinem zweiten Land – eine Stadt, die sein ganzes Leben veränderte und in der Wahrnehmung des Kindes wie ein neues Land gewirkt haben muss:

06.10.1978, Stuttgart
Einführung und Lesung
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Ruth Klüger

Ruth Klüger

*30.10.1931

In „weiter leben“ beschreibt Ruth Klüger die Zeit nach ihrer Flucht aus dem Lager und wie sie sich mit ihrer Mutter in Straubing unter die Leute mischt. Während sie dort, bereits in der Freiheit festeren Schrittes gehend, am Rande steht, sieht sie eines Tages beim Einkaufen KZ-Häftlinge mitten durch die Stadt gehen. (Von diesen Menschen will später niemand in Deutschland etwas gewusst haben.) Übergenau begreift die Erzählerin beim Anblick „der eigenen Leute“, was bis vor kurzem auch ihr Schicksal war. Das Kind sieht die Häftlinge mitfühlend an, aber nicht nur das, es begreift auch, dass die Vorbeigehenden sie zu der „Welt der Bewaffneten“ zählen, weil sie nichts von ihrem Schicksal wissen. Aber bei der Lesung verspricht sich Ruth Klüger dann und sagt nicht die „Welt der Bewaffneten“, sondern, ihrer inneren Wahrheit gemäß, „die Welt der Betroffenen“.

07.09.1994, DLA
Lesung aus „weiter leben“
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Hilde Domin

Hilde Domin

*27.07.1909, †22.02.2006

Über die Dominikanische Republik sagt Hilde Domin in einem unbedachten Moment, sie sei ein FERIENRESTAURANT – statt FERIENPARADIES. Der an sich lustige Augenblick offenbart aber eine interessante Wahrheit. Unsere Zeit lässt viele, auch altehrwürdige Orte derart durch den Tourismus verkommen, dass man gar nicht mehr von Orten, sondern von Nicht-Orten, oder, milder, von Durchgangsorten sprechen müsste, von Ferienrestaurants also, die von hungrigen Reisenden aus der ganzen Welt aufgesucht werden und die am Ende nur an ihrer Sättigung interessiert zu sein scheinen, ohne irgendeinen Sinn für den Ort selbst zu entwickeln.

30.11.1995, DLA
Gespräch
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Copyright Copyright

Selbst gebasteltes Leporello von Hilde Domin aus der Dominikanischen Republik

Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Georges-Arthur Goldschmidt erläutert, wie er das Deutsche wahrnimmt – als eine Sprache mit einer tragischen Geschichte. Den „Tücken der Geschichte“ zum Trotz ist es die Sprache seiner Literatur geworden. Anders aber als etwa bei Hans Keilson, der von der Sprache seiner Kindheit sagte, er habe sie nie hassen können, fällt es Goldschmidt nicht leicht, seine Liebe in dieser Direktheit auszudrücken. In dem Moment, in dem er schließlich sagt, das Deutsche sei die schönste Sprache, die er kenne, hört es sich im ersten Anlauf so an, als würde er sagen, das Deutsche sei die schlimmste Sprache, die er kenne. Bevor er es später deutlicher sagt, spiegelt sich darin die lebenslange Reibung zwischen dem Deutschen (der Sprache, wie er es sagt, die ihn eliminieren wollte) und dem Französischen (die Sprache seiner Rettung, seines Lebens in Freiheit). Interessanterweise kommt Goldschmidt hierbei anfangs auf Martin Heidegger zu sprechen, mit dem er streng ins Gericht geht (siehe die Heidegger-Kontroverse und Publikation der Schwarzen Hefte), dessen „braunen Ton“ er schon damals hervorhob, ohne von den späteren Erkenntnissen wissen zu können. Der Moderator Jan Bürger insistiert fragend und will mehr über das Verhältnis von Deutsch und Französisch in Goldschmidts Kosmos wissen, der daraufhin noch ein anderes schönes Versehen produziert: statt „Als Freud das Meer sah“, sagt er plötzlich „Als Deutsch das Meer“ sah.

20.09.2005, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Cover Georges-Arthur Goldschmidt „Als Freud das Meer sah“

Cover Georges-Arthur Goldschmidt „Über die Flüsse“

Oskar Pastior

Oskar Pastior

*20.10.1927, †04.10.2006

Das kalkulierte Versehen – „das Denken des Zufalls“ bringt Verschiebungen, Buchstabendreher mit sich. Und der Klang fordert ein neues Verstehen heraus.

20.12.1990, Studio LCB
Lesung „Das Denken des Zufalls”
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Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

„Meine Schrift weiß alles über mich“

Georges-Arthur Goldschmidt beschreibt im Gespräch mit Jan Bürger, auf welche Weise er sprachschöpferisch freier sein kann. Den Computer empfindet er als neutral, ein Ding, das ihn nicht kennt. Seine Handschrift hingegen wisse alles über ihn. Das Verstehen der Sprache ist gerade in seinem Fall durch den körperlichen Aspekt besonders frappierend, da die Hand die Regie übernimmt und sich der Kontrolle entzieht.

06.06.2014, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Orte der Mutter / Sprache – Echoräume

Orte der
Mutter /
Sprache – Echoräume

Lebensstränge, Satzkontinente, verdichtetes Sein. Die Freundschaft des Imaginären. Eine Weltlandkarte aus Sprache. Deutsche Wörter, unterwegs. Im Inneren. Im Äußeren. – Reisen. In der Erinnerung. In der Zeit. Am Wannsee – zwischen Wo und Wann.

Paul Celan

Paul Celan

*23.11.1920, †20.04.1970

Über Paul Celan ist so viel geschrieben und gesagt worden, dass man ihn, kommt er je einmal überhaupt selbst zu Wort, gar nicht mehr richtig hört. Man könnte sogar sagen, dass man ihn von allen Seiten so sehr umzingelt hat, mit Deutungen und Wahrheiten unter Besatzung gebracht hat, dass es geradezu strukturell die für ihn bittere Erfahrung in der Gruppe 47 spiegelt. Über Celan wurde damals ein vernichtendes Urteil gesprochen. Es hieß, er habe zu „pathetisch“ gelesen. Hans-Werner Richter sah sich gar zu dem Satz berufen, Celan habe „in einem Singsang vorgelesen, wie in einer Synagoge“. Andere in der Gruppe sprachen höhnisch über ihn und es hieß sogar, er habe „wie Goebbels“ rezitiert. Dass niemand von den Anwesenden in der Gruppe 47 „sein Schicksal“ gekannt haben soll, spricht genauso Bände, wie das heute der Fall ist, wenn alle nun sein „Schicksal“ im Mund führen und ihm gar nicht mehr zuhören können. Es fällt mir deshalb schwer, ihn zu deuten und damit zu okkupieren - seine Stimme selbst soll den Raum des Sagens öffnen.

Paul Celan liest in Jerusalem/Cernowitz, Bukowina/Bukarest/Paris

09.10.1969, Jerusalem
Lesung des Gedichts „Corona“
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Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Georges-Arthur Goldschmidt liest in Paris, Hamburg, Reinbek und Marbach

20.09.2005, DLA
Lesung „Mit dem Fahrrad durch Frankreich, 1949“
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Oskar Pastior

Oskar Pastior

*20.10.1927, †04.10.2006

Zwischen Wo und Wann

20.12.1990, Studio LCB
Lesung Wann-See-Gedicht
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Ein siebenbürgischer Nachmittag

20.12.1990, Studio LCB
Lesung „Jalousien aufgemacht”
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Herta Müller

Herta Müller

*17.08.1953

Herta Müller liest in Nitzkydorf, Bukarest, Berlin

Herta Müller - Über das Hinauswachsen aus dem heimatlichen Dorf, das Hüten der Kühe und die Schönheit von städtischen Krankenschwestern

19.01.2005, DLA
Gespräch
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Yoko Tawada

Yoko Tawada

*23.03.1960

Yoko Tawada – Auch Sprachen sind Orte einer inneren Landschaft, die wir mit der Stimme bereisen können.

03.05.2000, DLA
Lesung Gedichte
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Melinda Nadj Abonji

Melinda Nadj Abonji

*22.06.1968

„Tauben fliegen auf“ – und mit ihnen die Archive der Erinnerung, die das Persönliche in dem Moment transportieren und freisetzen, in dem im Außen etwas zu Ende geht. 1980, Tito ist seit kurzem tot, aber der Anfang der eigenen imaginären Reise in das noch offene Selbst und in die inneren Bilder beginnt gerade. Und wird ein Buch.

12.01.2011, Basel
Lesung aus „Tauben fliegen auf“
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Die Orte, die Ankunft – woher wissen wir, wie etwas wirklich war? Melinda Nadj Abonji umkreist mit Verve die Leerstellen und scheut die Unsicherheit nicht – im Gegenteil, sie erlebt sie als Auskunft gebenden Schwebezustand, der ihr hilft zu erzählen, wie es vielleicht gewesen sein könnte.

12.01.2011, Basel
Gespräch über Leerstellen
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Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Elias Canetti liest in Manchester, London, Wien, Zürich, Stuttgart

06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge“
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Hilde Domin

Hilde Domin

*27.07.1909, †22.02.2006

Hilde Domin liest in Madrid, London, Heidelberg, Rom, Santo Domingo und Marbach

04.10.2004, DLA
Über die Entstehung ihres Dichternamens und Lesung
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Saša Stanišić

Saša Stanišić

*07.03.1970

Saša Stanišić – Schelm und Architekt seiner literarischen Städte

Stanišić hat sich in seinem ersten Buch „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ auf die Suche nach einem verlorenen städtischen Kosmos gemacht. Schon der Anfang seines Buches zeugt von einer genuinen Liebe für die Menschen, die zwar Teil der erzählerischen (und autobiographischen) Vergangenheit sind, aber dennoch eine Art Museum der imaginären Gegenwart bilden, in dem Gagarin, Opa Slavkos Zauberhut, Titos Jugoslawien und der eine oder andere Verstorbene eine große Rolle spielen.

15.11.2006, Studio LCB
Lesung aus „Wie der Soldat das Grammofon repariert”
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Cover Saša Stanišić „Wie der Soldat das Grammofon repariert”

Martin R. Dean

Martin R. Dean

*17.07.1955

Martin R. Dean – Die Arbeit der Erinnerung, Trinidad, Liverpool, Zürich, Heimweh und Fernweh – und das Aargauer Bett in den „Tropen der Sehnsucht“.

22.04.2015, Basel
Lesung aus „Verbeugung vor Spiegeln”
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Cover Martin R. Dean „Verbeugung vor Spiegeln“

Ilma Rakusa

Ilma Rakusa

*02.01.1946

Ilma Rakusa – „das Unterwegskind“ sieht auf die Welt aus der inneren Stille heraus. Dabei formiert sich nicht nur die äußere Wirklichkeit für die Erzählerin, sondern auch ihr eigener innerer Blick. Ein tastendes Betrachten, dem Fragen zum Denken verhelfen, ist die Folge: Was ist jenseits der Grenze? Was geschieht, wenn die Fremdheit sich mit Nacht multipliziert? Ausgangspunkt hier ist Triest, eine der vielen Stationen in Ilma Rakusas früher Kindheit. Andere sind: Rimovska Sobota, Ljubljana, Zagreb, Budapest. Und später kommen Leningrad, heute Sankt Petersburg, Zürich, Berlin und Paris dazu.

10.12.2009, LCB
Lesung „Grenzen“ aus „Mehr Meer“
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10.12.2009, LCB
Lesung „Die Jahreszeiten“ aus „Mehr Meer“
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Heimaten

Heimaten

Alle AutorInnen, die hier zu Wort kommen, sind auf die eine oder andere Art Reisende. Hilde Domins Lebensstationen beispielsweise waren nicht immer freiwillig gewählt. Süddeutschland, Italien, England und schließlich die Dominikanische Republik sind Stationen im Spiegel eines unbarmherzigen Jahrhunderts. Dennoch gelang es ihr auch im erzwungenen Unterwegssein, die Fremdheit in dichterische Notwendigkeit zu verwandeln. So prägte sie nach dem Zweiten Weltkrieg den Satz von der Fremde als Heimat, dem sich der Titel dieser Station verdankt. Ist Heimat nur im Plural möglich?

Hilde Domin

Hilde Domin

*27.07.1909, †22.02.2006

„Irgendwo in der Freiwilligkeit“, so Hilde Domin, hoffe sie, einmal Hannah Arendt zu treffen. Im Briefwechsel der beiden Frauen (1960 – 1963) kann man erkennen, dass sie, bei allen Unterschieden, eine Gemeinsamkeit haben: Beide verbindet eine Freundschaft mit Karl Jaspers und beide verstehen, dass es „überall wackelig“ aussieht – wie es Hannah Arendt einmal formuliert. Das Denken, das Schreiben als einzige beständige Behausung?

Foto Hilde Domin


Briefwechsel zwischen Hilde Domin und Hannah Arendt

20.01.1960
Brief von Hilde Domin an Hannah Arendt

28.01.1960
Brief von Hannah Arendt an Hilde Domin

Copyright

17.02.1960
Brief von Hilde Domin an Hannah Arendt

Melinda Nadj Abonji

Melinda Nadj Abonji

*22.06.1968

Melinda Nadj Abonji nimmt zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen über das Fremde das Jahr 1914, in dem sie den Beginn der „Ideologie der Nationen“ verortet, ein Faktum, das dem Menschen das eigentliche Menschsein wegnimmt, indem es ihn seiner Diversität beraubt. Die Lüge beruhe dabei auf dem Rekurs auf das Identische, das Gleiche, die nationale Identität. Aber kein einziger Mensch sei so wie der andere. Das Leben selbst als die eigentliche Heimat des Menschen.

Basel, eine Veranstaltung mit Martin R. Dean

22.04.2015, Basel
Essay-Lesung „Fremderregung”
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Aglaya Veteranyi

Aglaya Veteranyi

*17.05.1962, †03.02.2002

Aglaya Veteranyi kam 1962 in Bukarest zur Welt – als Kind lebte sie im Zirkus mit ihrer Artistenfamilie, bevor ihnen gemeinsam die Flucht aus Rumänien in die Schweiz gelang. Aber weder die Zeit noch die neue Heimat vermögen zu wärmen. Heimat gibt es nicht für immer, im Singular ist sie ohnehin verdächtig. Die Erzählerin erdichtet sich im Meer eine imaginäre Lebenskonstante, das Wassermotiv wirkt von heute aus gesehen unheimlich – Veteranyi nahm sich 2002 durch Ertränken im Zürichsee das Leben. 1977, bei ihrer Ankunft in der Schweiz, soll sie nahezu Analphabetin gewesen sein. „Ich war nicht dafür vorgesehen, in der Außenwelt zu bestehen, sondern im Zirkus zu arbeiten“, sagte sie einmal in einem Interview. Ihre Sprache zeugt aber von genau dieser Kraft. Manchmal sind die Menschen genau für das vorgesehen, was man ihnen wegnehmen will. Manchmal fehlt jemand, der ihnen im Sinne Herta Müllers ein Taschentuch gibt – aber selbst dann kann niemand die „akute Einsamkeit des Menschen“ löschen, sie ist eine existenzielle Mitspielerin. Wie aber kann man mit anderen überhaupt leben, wenn man den eigenen Mund weggeworfen hat? Wo kann dieser Ort sein? Kann es ihn überhaupt geben?

01.09.2000, LCB
Lesung aus „Warum das Kind in der Polenta kocht“
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Martin R. Dean

Martin R. Dean

*17.07.1955

Martin R. Dean musste sich, wie er sagt, Festland erschreiben. Der Weg vom Wasser aufs Land ist in seinem Fall nicht nur eine Metapher für das Schreiben. Geboren ist Dean 1955 im Schweizer Menziken als Sohn eines aus dem Trinidad stammenden Arztes und einer Schweizerin. Die Vaterinsel und das Mutterland lehren ihn die inneren Reisen, die er für seine schriftstellerische Arbeit in seinen Büchern verwandeln und weiterschenken kann, weiterreichen – an seine literarischen Figuren. In seinem Essay „Verbeugung vor Spiegeln“ denkt er über das Fremde und das Eigene nach. Der Kampf gegen das Fremde führe, so Dean, zu einem Verlust an Innenraum. Das verflüssigte Festland seiner Suche ist einem supranationalen Blick geschuldet, es ist ein großzügiger Blick, ein Blick aufs ganze Leben.

22.04.2015, Basel
Lesung aus „Verbeugung vor Spiegeln”
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Ilma Rakusa

Ilma Rakusa

*02.01.1946

Ilma Rakusa kennt keine Heimat im Singular, es sind die kleinen Dinge, Gerüche und Farben, die sie als Durchreisende intensiv erlebt. Allein die inneren Sprach-Listen, die Aufzählungen des Wahrgenommenen, des so Erlebten können so etwas wie Heimatgefühle bei ihr wecken.

10.12.2009, LCB
Gespräch über Heimatgefühle
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Die Kälte der Zeitgenossenschaft

Die Kälte der Zeitgenossen­schaft

Die Kälte der Zeit zeigt sich am nachdrücklichsten in Kriegen, in denen Wärme und Menschlichkeit im feurigen Hass, in Ablehnung des anderen kanalisiert werden. Der Krieg hat den Zusammenbruch jeglicher zivilisatorischer Errungenschaften zum Ziel. Aber es sind immer Einzelne, die mit ihrer Stimme diesem Ziel zuarbeiten oder sich innerlich auflehnen. An kleinen Szenen lassen sich die großen Strukturen ablesen. Als etwa der Erste Weltkrieg ausbricht, gerät der zehnjährige Elias Canetti in einen großen Konflikt. Die englische Sprache, die er liebt, wird plötzlich im deutschsprachigen Umfeld verdächtig. Sein Gegenüber sind zunächst Gleichaltrige, bevor er mit dem Phänomen der Masse in Berührung kommt. Hier zeigt sich ihm bereits die Destruktion des Krieges. Abgrenzung. Hass. Verstoß. In eine Sprache der Unerbittlichkeit. In einer Sprache der Zerstörung. Der Masse. Der Kaltstellung. Was vom Leben nach den Kriegen bleibt und erinnert werden kann, schöpft seine Essenz aus dem tief Erlebten, dem Erlittenen, dem genau Wahrgenommenen. Ein „bitterer Boden“ der Geschichte (Danilo Kiš), aus dem Literatur entsteht.

Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Elias Canetti – Plötzlich ist Englisch unerwünscht

06.10.1978, Stuttgart
Lesung „Ausbruch des Krieges“
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Radiogespräch zwischen Theodor W. Adorno & Elias Canetti über das Phänomen der Masse

Hilde Domin

Hilde Domin

*27.07.1909, †22.02.2006

Lebensstationen zwischen Italien, England und der Dominikanischen Republik

04.10.2004, DLA
Gespräch
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Herta Müller

Herta Müller

*17.08.1953

Herta Müller – Diktatur und Demokratie, Über die politische Artikulation des Autors

27.04.2011, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Herta Müller

Herta Müller

*17.08.1953

„Alle Menschen brauchen Poesie“ – Herta Müller

18.06.2006, LCB
Gespräch
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Gila Lustiger

Gila Lustiger

*22.04.1963

Gila Lustiger untersucht Danilo Kiš’ Erzählprinzip (das interessanterweise an manchen Stellen mit jenem von Georges-Arthur Goldschmidt korrespondiert, aber auch Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Schreiben aufweist). Kiš gehe in seiner Literatur, so Lustiger, einen bewusst gewählten Weg des Scheiterns, zögernd, schwankend – wie sein in Auschwitz ermordeter Vater, den er genauso in seinem Roman „Garten, Asche“ beschreibt: als durchweg menschliche Figur, zitternd, lächerlich, in die Einsamkeit und das Alleinsein gestoßen. (Die Zitate, die Lustiger einbringt, stammen aus der Übersetzung von Ilma Rakusa.) Zweifelnd setze Kiš sein Werk über den Fluss Lethe. Die abgedunkelte Vergangenheit, seine frühen Verluste, sein mitteleuropäisches jüdisches Schicksal und die Verdrängungen seiner eigenen Zeit im kommunistischen Jugoslawien (nicht zu vergessen – die überall sichtbare metaphysische Schwärze) sind Voraussetzung für seine Wahrnehmung und Poetik der Erinnerung.

Die Masse der Dokumente und die Literatur

28.09.1998, LCB
Vortrag I
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Das Gift der Erinnerung – die verschwundene Welt des mitteleuropäischen Judentums

28.09.1998, LCB
Vortrag II
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Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Deutschland, 1949 – eine Zugfahrt. Goldschmidt kommt aus Frankreich, wo er als Jude den Krieg überleben konnte und bezeichnet sich selbst als einen peinlichen Überlebenden.

20.09.2005, DLA
Lesung aus „Über die Flüsse“
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Ruth Klüger

Ruth Klüger

*30.10.1931

Ruth Klüger – Filter der Erinnerung

07.09.1994, DLA
Lesung aus „weiter leben“
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Herta Müller

Herta Müller

17.08.1953
Oskar Pastior

Oskar Pastior

*20.10.1927, †04.10.2006

Oskar Pastior und Herta Müller schrieben anfangs zusammen an einem Roman, den sie vorerst „Hungerengel 1, 2, 3“ nannten. In einer relativ frühen Phase der Entstehung erzählen sie in der Begegnung mit Helmut Böttiger im LCB am Wannsee über den Schreibprozess des Buches, für das Herta Müller später und nach Pastiors Tod den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte. Das Buch wurde unter dem Titel „Atemschaukel“ publiziert. Zum Zeitpunkt dieser Veranstaltung wusste niemand von Oskar Pastiors Spitzeltätigkeit für die Securitate. Erst nach dem Tod von Oskar Pastior tauchte seine IM-Akte auf. Manche Formulierung im Gespräch mit Herta Müller lässt den Zuhörer aufgrund dieser, von heute aus gesehen, nachträglichen Referenz, zusammenzucken, etwa, wenn der Dichter sagt, er habe nie gemogelt. An diesen Stellen verweigert sich ihm auf eine eigenartige Weise die Sprache, ja, sie lässt ihn in der Verlangsamung nahezu stolpern, ihn, der sonst das Versehen, Verstehen, Drehen und Wenden der Sprache zu seinem großen artistischen Metier gemacht hatte. Daran ist etwas gleichermaßen Verstörendes wie Beruhigendes: Die Sprache selbst übernimmt die Regie und gibt in beide Richtungen Auskunft. Nicht zuletzt durch die luziden Rückfragen des Moderators ist bezeichnenderweise die ganze Zeit von Verdrängungsprozessen jedweder Art die Rede. Herta Müllers Wohlwollen ist vor dem Hintergrund dieser schwerwiegenden Auslassung ihres Freundes besonders markant. Trotz der Freundschaft, die die beiden verband, fand nie ein Austausch über Pastiors Spitzeltätigkeit statt. So wird deutlich, dass und auf welche Weise die Auslassung die schlimmste Form von Lüge werden kann, wie sie Simone de Beauvoir beschrieben hat. Dennoch bleibt Oskar Pastiors eigene Deportation, seine Not, seine Ausgesetztheit sichtbar und zeigt sich sogar noch genauer im Wissen um sein eigenes Tun. Herta Müller wurde später gefragt, ob dieses neue Wissen ihr Bild des Menschen Pastior verändere. Sie antwortete: „Es ergänzt das Bild. Ich beurteile den IM Pastior mit denselben Kriterien wie andere IM aus meiner Akte. Aber ich komme dabei zu einem anderen Fazit. Wenn Pastior noch leben würde, würde ich jedes Mal, wenn ich zu ihm käme, insistieren, dass er seine Akte lesen und selbst darüber schreiben soll. Aber jedes Mal würde ich ihn dabei in den Arm nehmen.“

Helmut Böttiger stellt seine Gäste vor und verortet die historische Situation, in der Oskar Pastior sein „Lagerrussisch“ lernte, ein Terminus, der in seiner dichterischen Arbeit immer wieder auftaucht. Und Herta Müller berichtet von ihrer Mutter, die das gleiche Schicksal wie Pastior erlitt und für fünf Jahre deportiert wurde. (Dieses Gespräch fand nur wenige Monate vor Oskar Pastiors Tod im LCB am Wannsee statt).

18.06.2006, LCB
Im Gespräch mit Helmut Böttiger
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Oskar Pastior und Herta Müller während ihrer Recherchereise zu „Hungerengel“ in der Ukraine 2004

Oskar Pastior erzählt von den drei vollgeschriebenen Heften nach seiner Lagerhaft

18.06.2006, LCB
Gespräch
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Hungerengel 1, 2, 3: Lesung von Herta Müller und Oskar Pastior

18.06.2006, LCB
Lesung aus „Hungerengel“
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Registrierschein für Aussiedler von Oskar Pastior

Rumänische Bestätigung der Deportation von Oskar Pastior

Oskar Pastior

Oskar Pastior

*20.10.1927, †04.10.2006

„Das Staunen, dass ich nie nie nie nicht gemogelt habe in diesen sechzig Jahren“ – Oskar Pastior

18.06.2006, LCB
Gespräch
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Saša Stanišić

Saša Stanišić

*07.03.1970

Saša Stanišić recherchierte in Bosnien für sein Buch „Wie der Soldat das Grammofon repariert“. Ihm war bewusst, dass er sich in einer Nachkriegszeit bewegt und, so erläutert es Maike Albath, die Moderatorin der Veranstaltung, geographisch in einem Raum, in dem es ethnische Säuberungen gegeben hatte. Die Menschen mussten innerhalb kürzester Zeit ihre Heimat verlassen. Tausende bosnische Muslime wurden ermordet. In Srebrenica starben an einem einzigen Tag 8000 Männer. Wie reagierte Stanišić’ Familie? Ein Buch, das sich manchmal sehr nah an der Wirklichkeit bewegt, stellt in einer solchen Situation alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen. Stanišić gelingt der Übergang von einem todernsten Thema zum Humor mühelos - wie es typisch für ihn ist.

15.11.2006, LCB
Gespräch mit Maike Albath
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Sprachbiographien

Sprach­biographien

Menschen wandern nicht nur in neue Sprachen ein, sie kehren auch in alte und erste Sprachen zurück. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür – die neuen Sprachen genügen nicht oder reichen nicht an die Lücken der Vergangenheit heran oder lösen eine Pendelbewegung aus. Oft tritt Verstummen ein, ein Aufgeriebenwerden zwischen den Sprachen. Und dennoch entsteht gerade so ein Gedächtnis, das im Schreiben geöffnet wird oder das sich als Gefängnis erweist (im erzählten Text kann auch das eine Öffnung sein). So oder so ist es oft erstmalig Selbstgewähltes, aus der historischen oder persönlichen Distanz heraus. Die Schnittstellen zwischen Sprache und Schweigen sind oft von der Abwesenheit von etwas oder jemandem geprägt, eine Prägung, die sich beispielsweise weder Ruth Klüger noch Elias Canetti willentlich ausgesucht haben. Auffällig oft spielen Vaterfiguren eine entscheidende Rolle. Vielleicht weil sie in den hier aufgespürten und erhörten Fällen eine Lücke darstellen, die gefüllt oder umkreist werden muss und unwiderbringlich mit der Sprache verbunden bleibt. Trotz allem – ein Fragment. Das in der Schreibsprache zur Brücke wird. Für ein mögliches Bild. Für eine mögliche Erzählung. Für ein Finden. Erkennen. Und Verlieren, als ein besseres Finden.

A - Vaterfiguren
Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Über seinen Vater nach der Emigration in England, der die Sätze in der neuen Sprache manchmal laut aufsagte und wiederholte, bis sie gut klangen.

06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge“
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Gila Lustiger

Gila Lustiger

*22.04.1963

„Das neue Wort wird das Grab des alten“ - Über den ungarisch-jugoslawisch-jüdischen Schriftsteller Danilo Kiš, der in seinem Buch „Garten, Asche“ (übersetzt aus dem Serbokroatischen von Ilma Rakusa) seinem in Auschwitz gestorbenen Vater ein weltliterarisches Denkmal setzte und seitdem Generationen von Schriftstellern in unterschiedlichsten Ländern inspirierte. Gila Lustigers Biographie wiederum ist unabänderlich mit der ihres eigenen Vaters verbunden: mit Arno Lustiger, dem Frankfurter deutsch-jüdischen Historiker. Er spielt in ihrem autobiographischen Roman „So sind wir“ eine zentrale Rolle. Aber nicht, wie bei Canetti, Kiš, Goldschmidt und Klüger als eine Lücke in der eigenen Erinnerung, sondern als ein konkreter Mensch, „der sein Leben im Zeitalter der Extreme“ retten konnte – ein Lebender. 2005 schrieb sie über diesen Lebenden ihr Buch. Aber bereits 1998 hielt sie ihren Vortrag über Danilo Kiš, der, genauso wie sie selbst, Frankreich zu seiner Wahlheimat machte, im gleichen Pariser Viertel wie Georges-Arthur Goldschmidt lebte und dort viele Jahre seiner Muttersprache treu blieb. Kiš schrieb Serbokroatisch, Gila Lustiger, die 1963 in Frankfurt am Main zur Welt kam, verfasst ihre Bücher auf Deutsch und lebt seit 1987 in Paris.
Um den Prozess der Erinnerung zu verdeutlichen, greift sie auf das Prinzip des Palimpsests zurück, von dem Danilo Kiš immer wieder spricht – als eine Art selbsttätiges Archiv der Erinnerung, als maximale Ausdrucksform, offen und durchlässig, auf die Freiheit und Überzeitlichkeit des Gedächtnisses ausgerichtet.Auf den Platz des Einzelnen im Ganzen. Auf das Ganze im Einzelnen. Der Autor erscheint hierbei als Enzyklopädist.

28.09.1998, LCB
Vortrag I
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28.09.1998, LCB
Vortrag II
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Cover Gila Lustiger „So sind wir“

Ruth Klüger

Ruth Klüger

*30.10.1931

„Das Gedächtnis ist eben auch ein Gefängnis, man rüttelt umsonst an den in der Kindheit geprägten Bildern. So verführen gerade die genauesten Erinnerungen zur Unwahrheit ...“

07.09.1994, DLA
Lesung aus „weiter leben“
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Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Georges-Arthur Goldschmidt über seinen Vater, der viel gezeichnet hat und bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt auch nur das tun konnte, da er seine Arbeit als Oberlandesgerichtsrat verloren hatte. Goldschmidt berichtet, auf welche Weise er das Sehen von seinem Vater gelernt hat.

06.06.2014, DLA
Gespräch
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B - Deutsche Sprache
Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Elias Canetti - die deutsche Sprache, unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache

06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge
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Hilde Domin

Hilde Domin

*27.07.1909, †22.02.2006

Hilde Domin – Vaterland oder Mutterland? Für Hilde Domin ist die deutsche Sprache für immer an die Mutter gebunden – ihr „letztes unabnehmbares Zuhause“, das sie, beginnend mit einem Zitat von Heinrich Heine, erläutert.

04.10.2004, DLA
Lesung und Gespräch
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Dominikanischer Ausweis von Hilde Domin, Juni 1946

Spanischer Ausweis von Hilde Domin, 1956

Saša Stanišić

Saša Stanišić

*07.03.1970

Saša Stanišić im Gespräch mit Maike Albath: Listen in deutscher Sprache, Reisen im Außen und in der eigenen Erinnerung. Kann man jemals an den Ort der eigenen Kindheit zurückkehren? „Man kehrt gar nicht zurück, man kommt da neu hin.“

15.11.2006, Studio LCB
Gespräch mit Maike Albath
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Melinda Nadj Abonji

Melinda Nadj Abonji

*22.06.1968

Die auf Etymologie zurückgreifende Arbeit an der Sprache und am Bewusstsein in Nadj Abonjis Text „Fremderregung“ bezeichnet der Moderator dieses Abends in einem Nebensatz als einen „spielerischen Trick“ der Autorin. Sie widerlegt aber diese Behauptung mit beeindruckender Klarheit und Folgerichtigkeit. Dabei gelingt ihr sogar ein Plädoyer für die Erkenntniskraft des Pathos.

22.05.2015, Basel
Essaylesung „Fremderregung“ II
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Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Wie kam es dazu, dass er sich selbst vom Französischen ins Deutsche übersetzte? Der Moderator erläutert die Sprachbewegung bzw. die Arbeitsweise des Schriftstellers, der sein Buch „Über die Flüsse“ im Grunde genommen zwei Mal geschrieben hat.

20.09.2005, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Angst vor dem Abitur in deutscher Sprache

06.06.2014, DLA
Gespräch
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Ruth Klüger

Ruth Klüger

*30.10.1931

Ruth Klüger – Bücher, Sprache, die Arbeit der Erinnerung. An der Stelle von Verwandten. An der Stelle von Menschen.

Am 27. Januar 2016 hielt Ruth Klüger in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus eine vielbeachtete Rede in deutscher Sprache (angekündigt wurde sie als US-amerikanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin), in der sie ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin mit der aktuellen politischen Situation der Flüchtlinge in Verbindung brachte. Das Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, habe heute, so Klüger, den Beifall der ganzen Welt gewonnen – „dank seiner geöffneten Grenzen und der Großzügigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind.“

07.09.1994
Lesung aus „weiter leben“
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Melinda Nadj Abonji

Melinda Nadj Abonji

*22.06.1968

Melinda Nadj Abonji beleuchtet das Wort „fremd“ – „Ausblick und Etymologie“, eine Vorgehensweise, die schon Julia Kristeva in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“ Ende der achtziger Jahre zu der wieder wichtig gewordenen Frage geführt hat: „Auf welche Weise kann man Fremder sein?“

22.05.2015, Basel
Essaylesung "Fremderregung" I
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Katja  Petrowskaja

Katja Petrowskaja

*03.02.1970

Katja Petrowskaja über ihr Buch „Vielleicht Esther“, in dem sie nach eigener Aussage Schmuggel verschiedener Art (Worte, Orte, Situationen) betreibt. Das Buch, so die Autorin, habe nicht nur ein deutschsprachiges Publikum erreicht, sondern es habe auch in ihrem Erleben, als es dann in ihrem Geburtsland übersetzt wurde, auf eine besondere Weise auch die ukrainischen Leser berührt. In einer historisch bedeutsamen Situation sei es dem dortigen Publikum eher möglich gewesen, sich auf ein aus dem Deutschen als ein aus dem Russischen übersetztes Buch einzulassen.

07.04.2016, DLA
Gespräch
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C – Andere Denk- und Lebenssprachen
Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Elias Canetti – Shakespeare auf Englisch, Schiller auf Deutsch

06.10.1978, Stuttgart
Lesung aus „Die gerettete Zunge“
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Paul Celan

Paul Celan

*23.11.1920, †20.04.1970

Diese Dokumente von Paul Celan geben selbstredend Auskunft. Seine Orte und seine Sprachen sind gleichsam in ihnen eingeprägt, ein Stempel, eine bewegliche Lebenslandkarte. In Essenz verdichtete Zeit.

Paul Celans Identitätskarte vom 29.12.1947

Pass von Paul Celan

Ilma Rakusa

Ilma Rakusa

*02.01.1946

Ilma Rakusa – in mehreren Sprachen beheimatet, nicht nur als versierte Sprecherin. Sondern auch als Sammlerin der Klänge und als schöpferische Spracharbeiterin. Und als literarische Übersetzerin aus dem Ungarischen, Serbokroatischen, Russischen, Slowenischen und Französischen. Im Gespräch mit Christina Weiss umkreist sie die Bedeutung von Vielsprachigkeit und sieht in ihr eine Öffnung der Welt.

10.12.2009, LCB
Gespräch I mit Christina Weiss
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Über das Französische und das Russische – Eleganz und Zärtlichkeit

10.12.2009, LCB
Gespräch II mit Christina Weiss
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Was macht das Übersetzen mit dem Übersetzer? Ilma Rakusa erläutert u.a. Imre Kertesz' Arbeit als Übersetzer von Nietzsche – wie philosophisch ist eigentlich das Ungarische?

07.04.2016, DLA
Gespräch
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„Ob Zwang oder Wahl, psychologische Entwicklung oder politisches Schicksal, diese Situation, verschieden, anders zu sein, kann als Krönung der menschlichen Autonomie erscheinen (sind wir nicht allein unter der Bedingung sprechende Wesen, dass wir uns von den anderen unterscheiden und ihnen, ausgehend von dieser wahrgenommenen und akzeptierten Unterschiedenheit, unseren persönlichen Sinn übermitteln?) und damit als herausragende Illustration des Wesentlichsten, Grundlegendsten, das die Zivilisation aufzuweisen hat. Auf der anderen Seite fordert der Fremde, indem er ausdrücklich, sichtbar, ostentativ den Ort der Differenz besetzt, ebenso seine eigene Identität wie die der Gruppe heraus, eine Herausforderung, die wenige unter uns fähig sind anzunehmen.“ (Julia Kristeva)

Georges-Arthur Goldschmidt

Georges-Arthur Goldschmidt

*02.05.1928

Georges-Arthur Goldschmidt über das Französische und die Arbeit an seinem Buch „Als Freud das Meer sah“, eine Auseinandersetzung mit seinen beiden Lebenssprachen – fast eine Selbstauskunft.

20.09.2005, DLA
Gespräch
Zur vollständigen Veranstaltung im Archiv

Hilde Domin

Hilde Domin

*27.07.1909, †22.02.2006

Hilde Domin über ihre Landung in der Dominikanischen Republik und die Beziehung zum Spanischen, das sie, zusammen mit ihrem Mann Erwin Walter Palm, mit den Gedichten von Federico García Lorca zu erlernen begann. Wie es dazu kam, berichtet sie in einem assoziativen Rückblick.

04.10.2004, DLA
Gespräch
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Michael Ryklin

Michael Ryklin

*06.01.1948

Michael Ryklin – russischer Philosoph, lebte und lehrte in Frankreich und in den USA, nun ist er in Berlin zu Hause. Ryklin ist selbst Übersetzer etwa von Roland Barthes und Claude-Lévi Strauss ins Russische und findet, dass die Muttersprache überschätzt wird, sie sei etwas Relatives. Er beschreibt, wie sich einzelne Lebens- und Denksprachen auf die erste Sprache auswirken können. Jan Bürger will wissen, ob unsere Gewohnheit, von der Muttersprache zu sprechen, eigentlich noch zeitgemäß ist – eine in unserer Zeit immer wichtiger werdende Frage, mit der sich schon seit Jahren (und aus unterschiedlichen Perspektiven) auch Julia Kristeva beschäftigt, die in diesem Zusammenhang, den Ausführungen Ryklins gemäß, in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“ von einem „verstreuten Selbst“ spricht.

07.04.2016, DLA
Gespräch mit Jan Bürger
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Marica Bodrožić
Marica Bodrožić, 1973 in Dalmatien geboren, siedelte 1983 nach Hessen über. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, zuletzt den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. In ihrem Buch „Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern“ (Suhrkamp Verlag) thematisiert sie ihr poetologisches Verhältnis zu ihrer zweiten Muttersprache. Ihre Erzählungen und Gedichte befassen sich häufig mit den Themen Erinnerung und Gedächtnis, ihre Romane bearbeiten die metaphysische Ausgesetztheit des Menschen, dem Liebe und Freundschaft zum inneren Wachstum verhelfen. 2016 ist ihr Roman „Das Wasser unserer Träume“ im Luchterhand Literaturverlag erschienen.

Über das Projekt
Seit Oktober 2015 ist das digitale Tonarchiv „Dichterlesen.net“ online – ein Portal, auf dem das LCB in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Literaturhaus Basel historische und aktuelle Veranstaltungsmitschnitte zum Nachhören präsentiert und in virtuellen Themenräumen Einblick in die Vielfalt der verfügbaren Audio-Materialien gibt. In diesem Hörraum „Unterhaltungen deutscher Eingewanderten“ gehen die beiden Autoren Marica Bodrožić und Deniz Utlu der Frage nach, wie sich Erfahrungen von Migration und Flucht in der deutschen Literatur widerspiegeln. Beide Autoren haben die Tonarchive in Berlin, Marbach und Basel gesichtet und auf Grundlage unzähliger Stimmen z.B. von Paul Celan, Ruth Klüger, Hilde Domin oder Elias Canetti einen jeweils eigenen audiovisuellen Onlineparcours kreiert. Sie reflektieren in diesen, ob eine sogenannte „Migrationsliteratur“ überhaupt existiert und hinterfragen Sprachbilder wie „Heimat“, „Muttersprache“ oder „Identität“.

Dichterlesen.net

Ein Projekt von
Dichterlesen.net ist eine Initiative des Literarischen Colloquiums Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Literaturhaus Basel. Das Portal und der Hörraum „Unterhaltungen deutscher Eingewanderten“ wurden gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Die Sprache des Archivs

Niemand bekommt seine Muttersprache in die Wiege gelegt. Sie muss entworfen werden; wir entwerfen sie, indem wir uns selbst in die Welt werfen. Diese entworfene Muttersprache ist der Boden aller Sprachen, die wir lernen. Aller Verse, die wir schreiben. Von hier ist jede Reise möglich. Beckett, der erst auf Englisch schrieb und später auf Französisch, hat seine Sprache gewechselt, nicht aber seine selbst entworfene Muttersprache. Auch das Übersetzen heißt nicht das Übertragen von einer Sprache in die andere, sondern das Suchen der Muttersprache des Schriftstellers in einer anderen Sprache. Der Entwurf der Muttersprache ist nicht frei von Gewalt. So wie auch der Entwurf des Selbst Wunden hinterlässt. Elias Canetti musste seine Zunge retten. Vaterlos zwischen den Ländern mit einer ungeduldigen Mutter, die ihm in wenigen Wochen aus den Zwängen der Umstände heraus das Deutsch in den Mund schneidet. Gerettet ist die Zunge aber nicht, weil Elias Canetti Deutsch lernt. Sondern weil er, ein dem Versehrt-werden Ausgesetzter, es schafft, sich in seine Muttersprache zu entwerfen. Lange spricht er ja gar nicht. Paul Celan dichtete nicht in der Sprache der Mörder, er überwand sie. Er öffnete das Wort, versiegelt mit Blut und Boden, in die Möglichkeit der Begegnung. Für Schriftsteller ist die Muttersprache eine Frage des Überlebens. Deshalb haben sie viele Mütter. Die Mütter stammen aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Orten, sie sind keiner Epoche und keiner Nation verhaftet. Zafer Şenocaks Mütter heißen Ibn Arabi, Yunus Emre und Johann Wolfgang von Goethe. Unter anderem. José F. A. Olivers Mütter heißen Paul Celan, Friederike Mayröcker, Federico García Lorca, Fernando Pessoa. Unter anderem. Paul Celans Mütter heißen Rainer Maria Rilke, Alexander Puschkin, Kabbala. Unter anderem. Usw. Lesen heißt auch, die Muttersprache der Dichter aufnehmen und nach den Sprachmüttern suchen. Ohne diese verwaisen die Dichter. Und der Leser liest sie nur noch als Informant auf. Das ist ein Missverständnis, auch das Erbe des verwaisten Dichters bleibt in seinen Zeilen, er hat nur wenige Informationen zu bieten. In diesem Hörraum sind 50 Ausschnitte eines fragmentierten Archivs versammelt. 50 Lesungen, kommentiert. Die Auswahl ist subjektiv und der Willkür des Archivs unterworfen. Eine Auswahl aus vielen Hunderten, die einige Aspekte eines Phänomens beleuchten, das nur existiert, weil es debattiert wird: die Migrationsliteratur. Die Themen des Hörraums sind: Das literarische Archiv der Migration; Die Nichtexistenz einer Migrationsliteratur; Das postkoloniale Deutschland; Die Öffnung der Nationalgeschichte; Die Frage nach der Identität. Die so reichen Autorinnen und Autoren, deren Lesungen sich in diesem Hörraum befinden, ragen selbstverständlich weit über diese Themen hinaus. Womöglich ist ihre Erwähnung an entsprechender Stelle die einzige Verbindung zu den Themen. So kann der Besucher des Archivs auch losgelöst von den Überlegungen hier durch den Raum streifen. Ein literarisches Archiv der Migration bleibt fragmentiert, unvollständig, paradox, assoziativ und flüchtig.

Das literarische Archiv der Migration

Das literarische Archiv der Migration

Ein Archiv kann helfen, Geschichten festzuhalten, bevor sie verschwinden.
Das Archiv der Migration, auch das literarische, ist unsichtbar. Es ist fragmentiert, immer unvollständig, in hohem Maße willkürlich, auch paradox. Paradox ist es, weil es ein Kriterium der Archivierung ansetzt, das ungültig und trotzdem berechtigt ist. Ungültig ist das Kriterium der Migration aus der Perspektive des Schreibenden, weil nicht die Migration das Schreiben bestimmt, sondern umgekehrt der Schreibende durch die Bestimmtheit seines Schreibens neben anderem auch die Erfahrung der Migration austariert. Berechtigt ist das Kriterium, weil im Kontext der Migration Autoren bzw. ihre Texte verwaisen können. Ein literarisches Archiv erweitert, wenn mit Bedacht eingerichtet, den Referenzrahmen der Rezeption. Mit Bedacht eingerichtet ist es dann, wenn es die Autoren nicht aufgrund ihrer Herkunftsvielfalt zusammenstellt, sondern sie immer auch in ihrer literarischen Tradition anerkennt. Die literarische Tradition, in der sich die jeweiligen Autoren befinden, kann allerdings nicht das verbindende Element in dem Archiv werden, weil die Autoren in unterschiedlichen Literaturen beheimatet sind. Wobei Literaturen nicht gleichzusetzen sind mit Nationalliteraturen, wie etwa der deutschen oder französischen. Gemeint sind die Werke, wo auch immer sie verfasst wurden, mit denen sich die AutorInnen verbinden. Damit sind die Bewohner eines literarischen Archivs zufällig und willkürlich zusammengestellt. Zufällig in dem Sinne, dass ihre Migrationswege auch (nicht nur) zufällig verliefen. Willkürlich, weil Migration eben nicht ausreicht, um eine literarische Verbindung zu behaupten und deshalb die Zusammenstellung der Subjektivität des Archivars untersteht. Die Paradoxie lässt sich nicht aufheben, sie muss ausgehalten werden.

Elias Canetti

Elias Canetti

*25.07.1905, †14.08.1994

Im literarischen Archiv der Migration treffe ich auf Elias Canetti. In Bulgarien wurde er geboren, als Kind wanderte er mit seinen Eltern und seinem Bruder nach England aus, später lebte er in Österreich und in der Schweiz. Und: Man könnte postulieren, er sei der vielleicht erste türkeistämmige Schriftsteller deutscher Sprache, zumindest im 20. Jahrhundert. In „Die gerettete Zunge“ schreibt er in einer Anekdote aus den Anfängen des Ersten Weltkrieges, dass seine Mutter „sehr erbittert“ war, weil rumänische Grenzbeamte ihren mit Essen gefüllten Koffer bei einer Passkontrolle an einer Grenzstation zu Ungarn am Bahnsteig leerten. „Sie führte das Verhalten der rumänischen Beamten auf unsere türkischen Pässe zurück. Aus einer Art von angestammter Treue zur Türkei, wo man sie immer gut behandelt hatte, waren die meisten Spaniolen türkische Staatsbürger geblieben. Die Familie der Mutter allerdings, die ursprünglich aus Livorno kam, stand unter italienischem Schutz und reiste mit ebensolchen Pässen. Wäre sie noch mit ihrem Mädchenpass unter dem Namen Arditti gereist, meinte die Mutter, so hätten sich die Rumänen gewiss anders benommen.(…)Ich kam mitten aus einem Krieg, den ich nicht anerkennen mochte, aber erst auf dieser Reise begann ich auf unmittelbare Weise etwas von der Allgemeinheit und weiten Verbreitung nationaler Gehässigkeit zu begreifen.“
Im letzten Drittel des Buches kommt Canetti auf Hebel zu sprechen, der in einer seiner Kalendergeschichten die Türkei erwähnt. Canetti notiert dazu in „Die gerettete Zunge“: „Mir war immer zumute, als käme ich aus der Türkei, der Großvater war dort aufgewachsen, der Vater noch dort geboren. In meiner Heimatstadt gab es viele Türken, alle zu Hause verstanden und redeten ihre Sprache. (…).“ Diese Wanderungen Canettis durch Sprachen und Kulturen sind nicht der einzige Grund, weshalb ich ihm im literarischen Archiv der Migration des deutschen Sprachraums begegne. Es ist vielmehr sein durch unzählige, poetisch zugespitzte Aufzeichnungen strukturierter Denkprozess, der durchdrungen ist von diesen Wanderungen und in dem er seinen Kampf gegen den Tod so ernst nimmt, dass er kindlichen Trotz zu einer literarischen Position erhebt.

Cover Elias Canetti, Die gerettete Zunge

Zeitschrift „Akzente“: Werbung für Elias Canetti des Verlags Carl Hanser, Heft 6/ Dezember 1981

Elias Canetti

06.10.1978, Stuttgart
Lesung „Die Tischtuchtolle“
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Aglaja Veteranyi

Aglaja Veteranyi

*17.05.1962, †03.02.2002

Es gibt zwei Autoren, deren Stimme ich schon kannte, bevor ich sie das erste Mal hörte: Albert Camus und Aglaja Veteranyi. Von Camus gibt es eine Tonaufnahme des „L’Étranger“, eingelesen von Camus selbst. Ich hätte nicht verblüffter darüber sein können, wie vertraut mir diese Stimme war. Ähnlich ging es mir mit der Aufnahme der Lesung von Aglaja Veteranyi aus dem Jahr 2000 nach der Veröffentlichung ihres Romans „Das Kind, das in der Polenta kocht“ – diese Stimme war schon immer da gewesen. Vielleicht wird bei einigen wenigen Autoren auch der Klang ihrer Stimme in ihre Texte hineintransportiert. Wie ich das erste Mal der Poesie Aglaja Veteranyis begegnet bin, könnte etwas über die Fragilität eines Archivs der Migration erzählen. Ich hatte damals im Ballhaus Naunynstraße eine Lesung zu Audre Lordes „Zami. Eine Mythobiographie“ eingerichtet. Nach der Lesung traf ich an der Bar des Theaters eine Bekannte, die begeistert war von Audre Lorde. Mein Exemplar von „Zami“ war voller Notizen, auch Streichungen und Markierungen. Ich drückte es ihr in die Hand. Und sie drückte mir „Das Mädchen, das in der Polenta kocht“ in die Hand. Wir tauschten. Ihr Buch war ein Geschenk an sie, jemand hatte eine Widmung hineingeschrieben; mein Buch war voller Notizen, die ich brauchte, wenn ich noch einmal eine Lesung aus „Zami“ planen würde. Aber beide wussten wir, dass dieser Tausch jetzt sein musste.

01.09.2000, LCB
Lesung „Warum das Kind in der Polenta kocht“
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Audre Lorde in Dagmar Schultz` Film „Audre Lorde...“

Die Lyrik der Gastarbeiter

Die Lyrik der Gastarbeiter

Das Schreiben oder Rezitieren von Lyrik ist tief in die verschiedenen Kulturen Anatoliens eingeschrieben. So haben auch Arbeiter, die infolge des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens nach Deutschland gekommen waren, Gedichte verfasst, teilweise auf Deutsch, teilweise auf Türkisch. Sie haben ihre Texte in Eigenverlagen veröffentlicht und im Urlaub in der Türkei an Freunde verkauft oder verschenkt. Wem ein solches Buch vorliegt, möge sich bitte beim LCB melden.

„Der millionste Gastarbeiter“

Stephan Hermlin

Stephan Hermlin

*13.04.1915, †06.04.1997

In dem Kapitel „Rückkehr“ aus seinem Buch „Entscheidungen“ beschreibt Stephan Hermlin, wie er 1945 als einer der ersten „Rückkehrer unter den Emigranten“ nach Deutschland kommt. „Länder zu wechseln ohne einen Pass zu haben, war nicht nur mir zur Gewohnheit geworden.“ Dieses Kapitel lehrt viel über die Erfahrung des Exils, über die Unsicherheiten im Leben eines Menschen, dessen Staat zerfällt, und wie diese Zerstörung gerade im Exil sein Denken vereinnahmt. Und es sagt auch etwas darüber, gerade durch den Topos der Rückkehr, wie sehr die Exilerfahrung Grundbestandteil der Gründungsphase eines neuen Deutschlands gewesen ist. Selbst wenn es sich bei Hermlin um ein Beispiel aus der Gründungsphase der DDR handelt, wissen wir doch, dass es diese Exempel genauso häufig auch in der Bundesrepublik gab. So gesehen ist die Exilerfahrung, natürlich unter vielen anderen Erfahrungen, eine Verbindung zwischen den beiden Staaten, die wenige Jahre nach der Rückkehr Hermlins entstanden sind. Diese Erfahrung hätte nach der Auflösung der DDR eine Basis für ein gemeinsames Narrativ bilden können. Sie könnte das immer noch. Das hätte auch Konsequenzen für die Entstehung und Wahrnehmung von Literatur. Als Hermlin von einem Grenzbeamten, der ihm Papiere ausstellen sollte, gefragt wird, was sein Beruf sei, erschrickt er: „(…) ich hatte Kohle gebrannt, meine Hände waren verdorben, ich konnte nicht mehr Geige spielen, ich war Flüchtling, ich hatte keinen Beruf. Zum ersten Mal sagte ich, ich sei Schriftsteller.“ Für Hermlin ist das ein Wendepunkt, er hat das Gefühl, die Unwahrheit zu sagen, auch die nächsten Male, wenn er nach seinem Beruf gefragt wird, denn er hatte damals erst wenig veröffentlicht. Dass er diese Antwort – „Schriftsteller“ – gerade in diesem Augenblick des Grenzübertritts mit gefälschten Papieren wählt, auf dem Weg in ein zerstörtes, wie er schreibt, „umgeworfenes“ Land, ist von hoher Wirkungskraft. Eine Wirkung dieser Stelle, die mich besonders trifft, ist die große Wichtigkeit für Hermlin, als Schriftsteller erkannt zu werden und nicht als Exilant. Zunächst aus Formalität, aber es wirkt tiefer in ihn hinein, seine eigene Antwort erschüttert ihn.

13.09.1995, DLA
Lesung „Rückkehr“
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Ödön von Horváth

Ödön von Horváth

*09.12.1901, †01.06.1938

In diesem Gespräch im LCB 1971 heißt es, dass Horváth vor einigen Jahren erst wiederentdeckt wurde, dass er keine Chance gehabt hätte im Deutschland der 50er Jahre. Nach Traugott Krischke, dem Herausgeber der Werke Ödön von Horváths, gab es durchaus Inszenierungen von Horváth-Stücken in den 50er Jahren, wie etwa die Aufführung von „Glaube Liebe Hoffnung“ 1954 in Göttingen. Dennoch dürfte es nicht ganz unwahr sein, dass sich das Publikum, aber vielleicht mehr noch die Theatermacher, damals schwer getan haben mit ihm. Aus einem kurzen, anekdotischen Aufsatz von Krischke geht hervor, wo genau in Paris Horváth von einem Kastanienast erschlagen wurde: Auf der Champs-Elysée, in einem Park in der Nähe des Théâtre Marigny. Als ich 2006 in Paris lebte, habe ich diese Stelle 68 Jahre nach dem Tod Horváths aufgesucht. Die tödliche Kastanie, auch das wusste ich von Krischke, gab es schon 1956 nicht mehr. Da waren Touristen, da war eine belebte Straße mit teuren Autos. Bevor ich Horváth als politischen Autor für mich entdeckte, folgte ich seiner Sprache, die bei aller Virtuosität in der Verwendung von Ironie auch ernst ist und Pathos ertragen kann – die Tauben in „Glaube Liebe Hoffnung“ begleiten mich oft. Und dann natürlich der politische Autor: Wie entfaltet sich ein politisches Schreiben, das dennoch der Literatur verpflichtet ist und sich niemals durch eine Agenda korrumpieren lassen würde? Oft, nicht zuletzt an Ödön von Horváth denkend, kommt mir der Gedanke, ob nicht das, was so inkonsequent als Migrationsliteratur bezeichnet wird, im Grunde nichts anderes ist als die politische Literatur unserer Zeit. Ich musste schmunzeln, als ich in einem Interview mit ihm nach der Verleihung des Kleistpreises seine ironische Spitze gegen den Interviewer las – natürlich in der damaligen Sprache, mit Worten, die heute, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht mehr so leicht erträglich sind: „Und um Ihnen die erste Frage zu ersparen, erzähle ich Ihnen gleich, wann und wo ich geboren bin und ob ich ein reinrassiger deutscher Schriftsteller bin oder bloß so eine Mischung.“

25.10.1971, LCB
Hans Werner Richter stellt Ödön von Horváth vor
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25.10.1971, LCB
Diskussion I zwischen Hans Werner Richter, Peter Palitzsch, Walter Huder, Dieter Hildebrandt, Reinhart Hoffmeister und Hellmuth Karasek
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25.10.1971, LCB
Diskussion II zwischen Hans Werner Richter, Peter Palitzsch, Walter Huder, Dieter Hildebrandt, Reinhart Hoffmeister und Hellmuth Karasek
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Aras Ören

Aras Ören

*01.11.1939
Yüksel Pazarkaya

Yüksel Pazarkaya

*24.02.1940
Güney Dal

Güney Dal

Fakir Bay

Fakir Baykurt

*15.06.1929, †11.10.1999

Die vier Autoren Aras Ören, Yüksel Pazarkaya, Güney Dal und Fakir Baykurt gehörten zu den ersten Schriftstellern, die nach der Gründung der Bundesrepublik aus der Türkei einwanderten und hier ihr literarisches Schaffen teilweise oder sogar vollständig entwickelten. Sie schrieben ihre Texte auf Türkisch, aber für deutschsprachige Leser – eine Ausnahme bildet Fakir Baykurt, der für Leser in beiden Ländern schrieb und in der Türkei sehr anerkannt war. In seinem Langpoem „Was will Niyazi in der Naunynstraße?“ aus dem Jahr 1973 folgt Aras Ören in der Tradition Hikmets und Brechts dem kommunistischen Arbeiter Niyazi in die Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Er hat den Text auf Türkisch geschrieben, der dann in deutscher Übersetzung vom Rotbuch Verlag erstmals veröffentlicht wurde. Diese Autoren haben viel über die ersten Dekaden der Migration in die Bundesrepublik geschrieben, also über eine Zeit, die das Land maßgeblich geprägt hat. Wenn man über diese Zeit spricht und über die Migrationsgeschichte, würde es nicht vielleicht unsere Sinne öffnen, über Literatur zu sprechen, statt nur über Soziologie und Politik?
Da es keine Höraufnahmen dieser Autoren im LCB oder im DLA gibt, möchte ich hier stattdessen einen Clip aus dem eigenen Archiv zeigen: Drei Generationen, drei Ös. Ein Lese-Flashmob. Die Ös stehen für Aras Ören, Emine Sevgi Özdamar und Selim Özdogan. Letzterer hat mit seinem Text „Vibrations­hintergrund“, aus dem in diesem Video zitiert wird, erreicht, dass sich viele Menschen mit Vielfachwurzeln, statt „Mensch mit Migrations­hintergrund“ „Menschen mit Vibrations­hintergrund“ nennen.

„Lese-Flashmob am Kotti“ von Friederike Zschau, 2011

Cover Fakir Baykurt „Ein langer Weg“

Zeichnung Wolfgang Neumann aus „Kopfstand“ von Aras Ören

Tezer Özlü

Tezer Özlü

*10.09.1943, †18.02.1986

Tezer Özlü (auch Tezer Kiral) schrieb einen ihrer zwei Romane zuerst auf Deutsch, bevor sie ihn selbst ins Türkische übersetzte und, ganz in der Manier von Beckett, ein neuer Text in der anderen Sprache entstand. Der Roman ist ein Klassiker des neueren türkischen Romans geworden: „Yaşamın Ucuna Yolculuk“ (Reise an den Rand des Lebens). Auf Deutsch heißt der Roman „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Variationen über Cesare Pavese“. Das Manuskript hat 1982 den Literaturpreis der Universitätsstadt Marburg und des Landkreises Marburg-Biedenkopf bekommen. 2011 wollte ich eine Lesung mit dem Romantext veranstalten. Es war fast unmöglich, an das Manuskript zu kommen. In Marburg erinnerte man sich an sie, aber niemand hatte das Manuskript. Über einen befreundeten Verleger, literarisch versiert im Türkischen wie im Deutschen, gelangte ich an eine Magisterarbeit aus dem Jahr 2003 (verfasst von Çiçek Bacik), die sich mit der deutschsprachigen Version des Textes auseinandersetzte. Auch der Autorin der Magisterarbeit lag der Text nicht vor. Sie kontaktierte für mich ihre mittlerweile pensionierte Professorin, die mir wiederum endlich eine Kopie des Manuskripts schickte. Jeder Satz in dem Roman fällt in den nächsten, wie Füße in vereiste Fußstapfen. Tezer Özlü macht eine Seelenreise mit Zügen durch Europa und Sex in Korrespondenz mit Cesare Pavese. Ich war lange auf der Suche nach den Spuren der „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ gewesen. Die Brüchigkeit des Archivs.

Manuskriptauszug „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ (1)

Manuskriptauszug „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ (2)

Tezer Kiral 1982

Die Nichtexistenz einer Migrationsliteratur

Die Nicht­existenz einer Migrations­literatur

Migrationsliteratur existiert nicht. Keine literarische Strömung lässt sich allein über die Herkunft oder scheinbare Herkunft oder zugeschriebene Herkunft der Autoren definieren. Migrationsliteratur ist eine Perspektive auf Literatur, die nicht am Text ansetzt, sondern an einer Vorstellung von Gesellschaft. Diese Lesart blendet alles im Text aus, was sich nicht dieser Vorstellung zuordnen lässt. Die Folge ist, dass eine Reihe von Autoren äußerlich einer Strömung zugerechnet werden, die es nur in ihrer Rezeption, nicht aber in ihrer Selbstdefinition gibt. Strömungen werden manchmal auch von außen erkannt, das sind im Kleinen Trends, im Großen Epochen. Aber kann eine Strömung allein über die Herkunftsvielfalt der Künstler bestimmt werden? Hat das Ästhetische seine Autorität in der Einordnung von Kunst verloren?
Ich liefere mir ein Argument für die Existenz von Migrationsliteratur: Nicht allein die Herkunftsvielfalt der Autoren ist ausschlaggebend, sondern die Manifestation dieser Erfahrung im Schreiben. Doch was genau kann diese Erfahrung sein? Die Migration selbst? Die erzählte Migration der Eltern? Das Exil? Das Leben in der Diaspora? Die Ausgrenzung? Das Polyglotte? Die möglichen Erfahrungen, die sich aus der Herkunftsvielfalt heraus im Schreiben manifestieren können, sind unterschiedlich und vielfach. Parallelen und Verbindungen der unterschiedlichen Erfahrungen mögen existieren. Die diffuse Existenz von Parallelen scheint mir aber zu vage, um eine Gattung auszudefinieren. Ein Beispiel aus einem anderen Land – weil Autoren sich nie nur auf die nationale Literatur berufen, ich kenne keine, die das tun –: Die Lektüre des Schriftstellers Gaito Gasdanow etwa, der als russischer Schriftsteller im Pariser Exil gelebt hat, sagt durchaus etwas aus sowohl über die Exilerfahrung als auch über das Polyglotte, hier Russisch, Französisch und das Französisch der russischen Emigranten. Wie viel würde der Leser jedoch verlieren, wenn er einzig diese Lesart auf die Lektüre Gasdanows anwendete, anstatt in ihm eine Verknüpfung zwischen Kafka und Existentialismus zu finden. Die Protagonisten Gasdanows sind Russen, die in Paris leben. Und doch könnte sein Roman „Die Rückkehr des Buddha“ nicht weiter weg sein von einer Milieustudie. Es ist auch nicht zwingend, Gasdanow aufgrund des Geworfenseins seiner Protagonisten als Existentialist zu begreifen. Es ist aber zwingend, ihn nicht alleine als Exilautor zu lesen, um sich für sein Wort zu öffnen. Diese Einsicht gilt auf ähnliche Weise auch für Autoren aus Deutschland, wie Aras Ören, Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu, Zafer Şenocak, Navid Kermani und andere.

Emine Sevgi Özdamar

Emine Sevgi Özdamar

*10.08.1946

Emine Sevgi Özdamar hat Ende der Sechziger Jahre, keine zwanzig Jahre alt, als „Gastarbeiterin“ bei Telefunken mit Pinzetten die Drähte kleiner Radiolampen gebogen und in einem Wohnheim genächtigt. In ihrem Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ schreibt sie darüber. Ihre Protagonistin redet in Shakespeare-Zitaten mit ihren Eltern, die sie davon abhalten wollen, das wohlbehütete Elternhaus zu verlassen und aus Abenteuerlust als Gastarbeiterin nach Deutschland auszuwandern. Emine Sevgi Özdamars Geschichten erzählen etwas über Migration, etwas über eine bestimmte Zeit in der Bundesrepublik, aber mehr als das sind sie ein Sprachteppich aus Bildern und Klängen: In ihrem ersten Roman „Das Leben ist eine Karawanserei- hat zwei Türen- aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus“ treffen wir in einem schwarzen Zug auf einen alten Mann, aus dessen ewig langem Bart ein Teppich geknüpft wird: Die Muster des Teppichs erzählen die Gründungsgeschichte der türkischen Republik. Der ganze Roman ist ein Textteppich, der weniger über den Plot oder sein Thema funktioniert als über das Ineinandergreifen der Worte, bei dem jeder Satz zum nächsten führt.

19.11.2004, LCB
Lesung aus “Das Leben ist eine Karawanserei...”
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Sherko Fatah

Sherko Fatah

*28.11.1964

„Mir leuchtete die Argumentation nie ein, dass man als Schriftsteller dann doch in den Elfenbeinturm zurückgeht, wenn man gefragt wird in der Öffentlichkeit, also nicht festgenagelt werden will auf politische Themen.“ Einige seiner Romane, auch der hier vorgestellte Roman „Der letzte Ort“, spielen im Nahen Osten. Fatah begreife sich nicht als politischer Autor, aber als Autor, der politische Themen bearbeite, deshalb sei es naheliegend, wenn er zu Entwicklungen in der Region befragt werde. Wenn es aber nur noch zu politischen Fragen komme, dann überfordere das einen Roman, dieser sei ein „Sprachkunstwerk“.

12.08.2015, LCB
Gespräch mit Thomas Geiger
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12.08.2015, LCB
Lesung aus „Der letzte Ort“
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Zsuzsa Bánk

Zsuzsa Bánk

*24.10.1965

Bei einer Lesung in einer hannoverschen Buchhandlung 2007 aus ihrem Roman „Der Schwimmer“ fragte jemand aus dem Publikum, ob sie das Ungarn, das sie in diesem Buch zeichne, so erlebt habe. Die Person erwähnte, dass sie selbst aus Ungarn stamme und andere Bilder des Landes im Kopf habe. Der Roman spielt in Ungarn und der Volksaufstand von 1956 ist wichtig für die Backstory. Trotzdem antwortete Zsuzsa Bánk, es gehe ihr bei diesem Roman nicht um Ungarn. Es sei ihr insbesondere um die Sprache gegangen, um den Aufbau der Absätze, durch den ein bestimmtes Gefühl vermittelt werde. Der Text schafft eine Atmosphäre, die die Geschichte der überzeichneten Figuren, ihre Traurigkeit, noch einmal anders erzählt.

19.04.2002, LCB
Lesung aus dem Manuskript zu „Der Schwimmer“ im LCB
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İmran Ayata

İmran Ayata

*1969

„Hürriyet Love Express“ war sein erster Band mit Erzählungen, die einen witzig, die anderen melancholisch. Mit „Mein Name ist Revolution“ veröffentliche İmran Ayata 2012 seinen ersten Roman beim Blumenbar Verlag. Der Roman schafft es, sich explizit auf die türkischsprachige deutsche Literatur eines Aras Ören zu beziehen, etwa im Epigraph, und sich trotzdem in der Popkultur zu verorten, zum Beispiel durch die Interaktion von Songs mit der erzählten Geschichte. So kommt es nicht von ungefähr, dass Ayata zusammen mit dem Münchner Galeristen Bülent Kullukcu die Musik-Compilation „Songs of Gastarbeiter“ veröffentlichte.

19.06.2015, LCB
Lesung im LCB
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Maruan Paschen

Maruan Paschen

*1984

Maruan Paschen mag keine Internatsgeschichten, wie er bei seiner Lesung im LCB gegenüber dem Moderator Thorsten Dönges zugibt. Trotzdem hat er für seinen Debütroman „Kai. Eine Internatsgeschichte“ sämtliche Werke dieser Literaturlinie, auch den verhassten Törleß, gewälzt. Im LCB trägt er Auszüge seiner Erzählung „Muammers letzter Tag“ vor, in welcher der Deutschlehrer Said Maruan beim Kröte Institut in Libyen unterrichtet.

26.05.2015, LCB
Lesung „Muammers letzter Tag“
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Daniela Janjic

Daniela Janjic

*02.01.1984

Als Dramatikerin bindet Daniela Janjic in Szenen die Komplexität des Außen im Innern, das Richtige, das es im Falschen nicht gibt, das Politische im Privaten – z.B. in dem Gespräch eines Pärchens in ihrem Stück „Pyramiden“, das sich Ewigkeiten nicht zwischen Butter und Margarine und verschiedenen Brotsorten entscheiden kann. Konsumkritik? Nein, es ist viel mehr als das. Hier prallt auch die Kriegserfahrung der Frau auf die Entwicklungshilfeambitionen des Mannes. Es geht um die Undurchschaubarkeit, die wir nicht beim Namen nennen können und die in uns hineinreicht und so sehr unsere Beziehungen verletzt. Der Titelwandel eines ihrer Stücke sagt viel über das Simultane des Politischen und Poetischen aus – mal das eine, mal das andere verheerend – in den Räumen, die Daniela Janjic öffnet: „Vaters Traum von Kirschbaumblüten“ wurde zu „Tod meiner Stadt“. Ich habe 2013 mit Daniela Janjic in der Literaturwerkstatt „Rauş – Neue Deutsche Stücke” zusammengearbeitet (eine Kooperation des Maxim Gorki Theaters und des Kultur‐ und Gesellschaftsmagazins „freitext“). In der Beschreibung der Werkstatt hieß es: „Neue Texte zum Dasein in Deutschland heute, Dasein transnational, Dasein mit Altlasten hier und mitgebracht aus anderen Ländern, mit Weltkriegen auf dem Buckel, mit Wunsch nach Welterneuerung, nach Weltuntergang, nach Liebe und der Akzeptanz von andersartigen Lebensformen auf diesem Planeten.“ Sie hatte bei Rauş an ihrem Stück „Pyramiden“ gearbeitet. Im LCB hat sie drei Jahre zuvor Prosa gelesen.

13.07.2010, LCB
Lesung aus einem Romanmanuskript
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Feridun Zaimoglu

Feridun Zaimoglu

*04.12.1964

Feridun Zaimoglu legte mit „Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ rhythmisierte Brutalmonologe vor, deren selbstbewusste Derbheit nicht oder wenigstens nicht nur von einer Verrohung am Rande der Gesellschaft erzählt, sondern von Schmerzempfindlichkeit und Verwundung. Über Sprachrhythmus und Wortsetzung hatte er in diesem Debüt schon begonnen, eine eigene Romantik zu entwerfen. Der Titel „Kanak Sprak“ öffnet zwei Wege: „Kanak“ und „Sprak“. Der Leser hat in Abhängigkeit von seinen Vorstellungen und Bedürfnissen die Möglichkeit, sich mit dem Text auf die Suche nach Migrationsspuren zu begeben oder sich auf die ganz eigene Erzählung einer Sprachentfaltung einzulassen. Allerdings könnte womöglich – ist Schreiben nicht immer auch Spiel? – einer der beiden Wege eine Sackgasse sein?
13 Jahre nach „Kanak Sprak“ liest Feridun Zaimoglu im LCB aus seinem Roman „Liebesbrand“, einem Liebesroman, wie der Titel verspricht.

15.04.2008, LCB
Lesung aus „Liebesbrand“
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Thien Thran

Thien Tran

*17.07.1979, †16.12.2010

„Eine gewisse Sanftheit vielleicht“, sagt Thien Tran, als er vom Moderator Jürgen Jakob Becker gefragt wird, ob seine Lyrik auch von der vietnamesischen Literatur beeinflusst sei. Vorher wurde er gefragt, ob er sich zur „Literatur der Migration“ zähle. Er antwortete „Nein.“ Die Antwort kommt langsam, trotz Antizipation der Frage nachdenklich, aber sehr klar, die Antwort kann nur „nein“ sein. Der Moderator stellt die Frage, so sagt er, weil es eine große Debatte über diese „Literatur der Migration“ gebe. Thien Tran führt diese Debatte nicht. Sie verfehlt die Intensität seiner wasserfarbenen Lyrik. Einen Gedichtband hat er veröffentlicht, „Fieldings“, im Jahr 2009 in dem Lyrikverlag Verlagshaus Berlin. 2010 war er Stipendiat im LCB und hat im September dort neue Gedichte gelesen. Er ist im selben Jahr in Paris gestorben. Hier, in memoriam, seine Stimme und die Gedichte, die er am Wannsee geschrieben hat.

07.09.2010, LCB
Lesung und Gespräch
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Matthias Nawrat

Matthias Nawrat

*13.09.1979

Matthias Nawrat hat mit dem Liebesroman „Wir zwei allein“ debütiert, danach hat er einen Roman über „das Wirtschaften“ geschrieben, „Unternehmer“, der mit den Worten Tantal und Wolfram beginnt: „Tantal und Wolfram sagt Vater, werden uns besonders reich machen“. Also genau mit den Mineralien, die von der OECD, später von der EU, als Konfliktmineralien bezeichnet werden – Mineralien, mit deren Handel bewaffnete Konflikte teilweise finanziert werden. Der Roman spielt aber nicht in der Demokratischen Republik Kongo, sondern im Breisgau. Sein dritter Roman „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“, eine Familiengeschichte, beginnt mit der Beerdigung des Opas Jurek in Opole, einer Stadt auf dem Mond.

07.05.2014, LCB
Lesung aus „Unternehmer“
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Katja Petrowskaja

Katja Petrowskaja

*03.02.1970

„Ich war plötzlich die Frau, die über die Shoa geschrieben hatte“, sagt Katja Petrowskaja während einer LCB-Veranstaltung zu ihrem Buch „Vielleicht Esther“ im Gespräch mit Per Leo. Sie sei sehr gelobt worden vom Feuilleton, aber diese Reduzierung auf eine Opferposition tue weh. Vom 6. bis zum 8. Mai kuratierten die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann und der Lyriker Max Czollek eine Tagung im Maxim Gorki Theater: „Desintegration – Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen“. Eine der provokativen Leitfragen, die sie dem Kongress stellten, war die nach einer jüdischen Identität in Deutschland, die sich außerhalb einer diskursiven Festschreibung als Opfer formiert. Bezogen auf Literatur: Wie können die Werke und letztlich auch die Autoren befreit werden von den sozialen Korsetts? Ein Motto des Kongresses war: „spielt doch euer Theater alleine“. Ganz im Sinne von Petrowskaja, die sich nicht von Zuschreibungen einfangen lässt.

23.06.2014, LCB
Gespräch mit Per Leo
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23.06.2014, LCB
Lesung aus „Vielleicht Esther“
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Serdar Sezenoglu

Serdar Sezenoglu

*1973

Serdar Sezenoglu nahm an der Berliner Autorenwerkstatt Prosa 2015 teil und arbeitete an seinem Manuskript „Den Bruder nur allein“: Es ist die Geschichte der beiden Brüder Sem und Zach. Einer erblindet allmählich, der andere beobachtet, die Sprache folgt dem Rhythmus ihrer Schritte.

22.04.2016, LCB
Lesung aus dem Manuskript zu „Den Bruder nur allein“
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Das postkoloniale Deutschland

Das post­koloniale Deutschland

Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und seinen Folgen bildet eine internationale Tradition in der Literatur. Da wären zunächst Autoren aus den ehemaligen Kolonien, etwa Wole Soyinka aus Nigeria oder Léopold Sédar Senghor, der später Präsident Senegals wurde, und Aimé Césaire aus Martinique. Auch in den Ländern, die vom Kolonialismus profitiert haben, entstand untrennbar eine literarische Strömung: US-amerikanische Autoren, zunächst Ralph Ellison und James Baldwin, dann Autorinnen wie Toni Morrison, Alice Walker, Audre Lorde oder Maya Angelou, aber auch französischsprachige Autorinnen, wie Maryse Condé, eine französische Schriftstellerin mit Wurzeln in Guadeloupe, nahmen die Traumata in der schwarzen, aber auch in der weißen Bevölkerung in den Blick, die nach dem Kolonialismus bis heute zu spüren sind. In Großbritannien waren das Autoren wie Salman Rushdie und Hanif Kureishi. In den letzten beiden Dekaden hat sich die Auseinandersetzung mit den Folgen der Immigration stark aus dieser Tradition entwickelt und sich dabei mit anderen Traditionen verbunden. So etwa Junot Díaz, der in der Dominikanischen Republik geboren wurde und in den USA aufgewachsen ist. Er schreibt alle seine Texte aus der Perspektive eines Alter Egos, das als schwarzer Latino seine Kindheit in Elendsvierteln der USA verbringt, einen krebskranken, rauen Bruder und eine alleinerziehende Mutter hat. Insbesondere in seinem Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ verbindet er sein Schreiben mit Traditionen des Magischen Realismus, ohne diese ganz zu übernehmen. In Deutschland schrieb der Schriftsteller Uwe Timm mit „Morenga“ einen der ersten, wenn man so will, deutschen „postkolonialen“ Romane. Der Roman handelt von dem Aufstand der Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, und der Niederschlagung dieses Aufstands durch die deutsche Kolonialmacht. Die Fachöffentlichkeit bezeichnet die Ereignisse von 1904 und 1908 schon lange als Völkermord, so auch die Bundesregierung seit 2016, also fast vierzig Jahre nach der Veröffentlichung von „Morenga“. Die Erzählweise in „Morenga“ schließt allerdings nicht an die Tradition kolonialkritischer Autorinnen aus den USA, Frankreich oder Großbritannien an, sondern verharrt mehr in der Form des historischen Romans. Eine der ersten Autorinnen, die der deutschen Kolonialgeschichte, einschließlich ihrer Folgen bis heute, nachging, ist die ghanaisch-deutsche Poetin May Ayim. In dem Band „Farbe bekennen“, den sie 1986 zusammen mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz herausgegeben hat, versehen mit einem Vorwort von Audre Lorde, sind Teile ihrer Diplomarbeit veröffentlicht. Eine der ersten Arbeiten zur Geschichte der Afrodeutschen – abgelehnt von ihrem Professor, mit der Begründung, es gebe in Deutschland keinen Rassismus. Später veröffentlichte sie ihre Gedichtbände „Blues in Schwarz-Weiß“, „Nachtgesang“ und „Grenzenlos und unverschämt“. Gemeinsam mit José F. A. Oliver und Bahman Nirumand gab sie 1995, ein Jahr vor ihrem Tod, den Band „… aus dem Inneren der Sprache“ heraus. Unter den jüngeren Autoren war es Mutlu Ergün, der mit seinem Roman „Kara Günlük – die geheimen Tagebücher des Sesperado“, erschienen 2010, die Verbindung zwischen einer kolonialkritischen Auseinandersetzung zu Konflikten im Kontext von Immigration zog. Die Autorin Sharon Otoo erhielt als erste schwarze Frau 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Uwe Timm

Uwe Timm

*30.03.1940

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung liest Uwe Timm hier aus „Morenga“, seinem Roman über den Genozid 1904 und 1908 an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika seitens der deutschen Kolonialmacht. Timm erzählt, dass ein Beweggrund für das Verfassen dieses Romans darin lag, dass er Militärs in seiner Familie gehabt habe, die er als Kind über diese Zeit habe reden hören.

15.06.1988, LCB
Lesung aus „Morenga“
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Philipp Khabo Köpsell

Philipp Khabo Köpsell

*1980

Der Poetry Slam hat sich in Deutschland durchgesetzt. Autoren steigen auf die Bühne, performen ihre Verse und das Publikum stimmt ab, wessen Performance die beste war. Es gibt aber noch eine andere Variante des performten lyrischen Textes ohne Wettbewerb: Spoken Word. Nah dran am Hiphop ist das eine Form, die in den USA von afroamerikanischen Sprachkünstlern etabliert wurde. Inhaltlich ging es dabei meist darum, gesellschaftliche Missstände zu kritisieren – ein Aspekt, der im deutschen Poetry Slam weniger vorkommt. Philipp Khabo Köpsell ist ein Spoken-Word-Künstler, der seine Texte auf Englisch und Deutsch liest, spricht, rappt, singt. Seine erste Sammlung mit Spoken-Word-Gedichten nannte er „Die Akte James Knopf. Afrodeutsche Wort- und Streitkunst“.

Cover Philipp Khabo Köpsell „Die Akte James Knopf. Afrodeutsche Wort- und Streitkunst“

Sharon Otoo

Sharon Otoo

*1972

Sharon Otoo ist eine Autorin aus Großbritannien, die auf Englisch und Deutsch schreibt und in Berlin lebt. Sie ist Mitglied der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“, die von May Ayim mitgegründet wurde. Der Titel ihres ersten Buches lautet: „Woran ich denke während ich höflich lächle“, die Trennungsgeschichte einer schwarzen Frau in Deutschland, in dem sie den Alltagsrassismus in Deutschland seziert. Den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt sie für ihren Text „Herr Gröttrup setzt sich hin.“

Sharon Otoo liest beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2016

Mutlu Ergün

Mutlu Ergün

*02.06.1978

Mutlu Ergün schrieb sein Buch „Kara Günlük. Die geheimen Tagebücher des Sesperado“ kapitelweise von Monat zu Monat und verlas die Kapitel bei der Lesereihe „tausend worte tief – gelesen wird immer“ im Café „vor wien“ in der Skalitzer Straße in Berlin-Kreuzberg. Mutlu Ergün und ich luden ein Mal im Monat eine Autorin ein und lasen jeweils selbst einen Text. Der Sesperado löste Jubelrufe aus. Das Publikum klatschte, lachte, fiel dem Autor mit beipflichtenden Zurufen ins Wort. Andere waren verstört, verließen die Lesung oder hatten Diskussionsbedarf. Eine so offene Sprache über Rassismus war man in den Nullerjahren nicht gewohnt. Der Text ist aus der Perspektive eines Studenten geschrieben, der in seinem Tagebuch rückwärts die Tage zur „Revolution of Color“ zählt. Im Lehrprogramm konzentriert er sich auf die postkolonialen Studien, obwohl es dafür kaum Bonuspunkte gibt und lässt in Fußnoten immer wieder theoretisches Rahmenwissen von der Leber – so liest sich das Buch auch wie eine Einführung in die Postcolonial Studies und Critical Whiteness.

Mutlu Ergün „Kara Günlük. Die geheimen Tagebücher des Sesperado“

May Ayim

May Ayim

*03.05.1960, †09.08.1996

May Ayim wurde 1960 in Hamburg geboren. Sie starb 1996 in Berlin. Sie verfasste lyrische und essayistische Arbeiten. In ihrem Text „Rassismus, Sexismus und vorkoloniales Afrikabild in Deutschland“ zeichnet sie die afrodeutsche Geschichte nach und verwendet dafür zahlreiche Zeitdokumente. Die Sprache, zu der sie durch ihre Lyrik findet, ist von klarer Leichtigkeit wie die Erinnerung an einen Schmerz, dem jetzt begegnet werden kann. Maryse Condé schrieb über sie: Die „junge Frau, die die Aufgabe hatte, mich dem Publikum vorzustellen, [erweckte] meine Aufmerksamkeit. Warum? Ihre Jugend. Und ihre Stimme. Eine Stimme mit dem Klang und den Spuren sehr alter, noch offener Wunden. Auch ihre Erscheinung. Leise schmerzend, wie die Stimme.“
Heute erinnert ein Straßenname in Berlin an sie: das May-Ayim-Ufer. Vorher war die Straße nach Otto Friedrich von der Gröben (1656-1728) benannt. Von der Gröben ließ die Festung Großfriedrichsburg an der Küste des heutigen Ghana erbauen. Ab 1680 war das drei Jahrzehnte lang ein wichtiger Umschlagplatz für den transatlantischen Sklavenhandel.

Cover May Ayim „Blues in Schwarz weiß“

Gedicht May Ayim „Schwarz weiß Monolog“, aus: „Weitergehen“

Videodokumentation über May Ayim

May-Ayim-Ufer

Textauszug „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“, Hg. von K.Oguntoye, M. Ayim, D. Schultz

Die Öffnung der Nationalgeschichte

Die Öffnung der National­geschichte

Die Frage danach, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder nicht, hat in den letzten Dekaden viele Politiker, einige öffentliche Debatten und auch Juristen beschäftigt: Der Gesetzgeber hat das „Recht des Blutes“ im Staatsbürgerrecht durch das Geburtsortsprinzip im Jahr 2000 ersetzt und so den rechtsstaatlichen Rahmen geschaffen für das, was schon lange Realität war: Deutschland als Einwanderungsland. Diese Realität reicht tief, wenn auch gebrochen, in die deutsche Geschichte hinein. Die Fünfziger Jahre, also das erste Jahrzehnt der beiden deutschen Republiken, bilden hier eine historische Ausnahme infolge des Zweiten Weltkriegs und des Naziregimes. Bereits 1955 schon schloss die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit Italien, um Arbeiter für den Wiederaufbau zu rekrutieren, 1961 mit der Türkei. Die Diskussionen, die es seitdem immer wieder gab, konzentrieren sich auf das Zusammenleben in Deutschland: Wie leben verschiedene Gruppen miteinander? Wie können sie zusammengeführt werden, vor allem auf dem Arbeitsmarkt? Ein anderer Aspekt des Einwanderungslandes hat in den letzten Jahrzehnten in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle gespielt, wohl aber, wenn auch implizit und oft unbeabsichtigt, in der Literatur: Es geht nicht mehr alleine um die Frage, wie Menschen „multikulturell“, „integrativ“, „inklusiv“ – welchen Begriff man auch verwendet – miteinander innerhalb der nationalen Grenzen leben. Ebenso wichtig ist, dass die Geschichte, die die verschiedenen Menschen mitbringen, auch Teil der Nationalgeschichte wird. Plötzlich ist Titos Tod auch ein Teil der Geschichte des Einwanderungslands Deutschland, so auch der Befreiungskrieg in der Türkei nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs und die Transformationsprozesse in Georgien und Aserbaidschan.

Doğan Akhanlı, Edgar Hilsenrath

Doğan Akhanlı

*1957
Edgar Hilsenrath

Edgar Hilsenrath

*02.04.1926

Edgar Hilsenraths Roman „Das Märchen vom letzten Gedanken“ wurde 2012 im Ballhaus Naunynstraße, damals unter der Leitung von Shermin Langhoff und Tuncay Kulaoglu sowie in der Regie von Miraz Bezar, für die Bühne adaptiert. 2015 adaptierte Hans-Werner Kroesinger im Maxim Gorki Theater, unter der Intendanz von Shermin Langhoff, Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ für die Bühne. Edgar Hilsenrath bezieht sich in seinem Roman, wie er im Gespräch während einer Veranstaltung im LCB 2008 sagt, auf Werfel. Jedes Jahr findet im Ballhaus Naunynstraße (bis 2013) und danach am Maxim Gorki Theater am 19. Januar, dem Tag der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink vor seinem Büro in Istanbul, eine Gedenkveranstaltung statt. Eine dieser Veranstaltungen wurde zusammen mit dem Schriftsteller Doğan Akhanlı präsentiert. Zwei Schauspielerinnen lasen aus seinem Roman „Die Richter des Jüngsten Gerichts“, über den Edgar Hilsenrath urteilte: „Ihr Buch ist ein literarisches Meisterwerk, poetisch und schön…“. Diesem Roman hat Doğan Akhanlı zwei Epigraphe vorangestellt, einmal ein Zitat aus dem „Märchen vom letzten Gedanken“ und dann eins aus „40 Tage des Musa Dagh“. Diese beiden Bezüge stellen sich nicht allein aufgrund des Inhalts her. Akhanlı sucht eine Synthese der beiden Formen: Märchen und historischer Roman. Das Ergebnis ist eine poetische Reise, gerade noch im (Alp)traum, ebenso weit weg vom Surrealismus, wie vom Realismus. Wobei das Traumartige hier keine Flucht ist, sondern eine Methode, um präzise Bilder zu finden für das Unsagbare. Deshalb ist der Traum hier immer gebunden an die Wirklichkeit und bleibt sein Schatten.

21.11.2012, DLA
Doğan Akhanlı über das Schreiben in einer fremden Sprache
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03.03.2008, LCB
Edgar Hilsenrath über den Roman „Das Märchen vom letzten Gedanken”
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Titelseite Franz Werfel: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“

„Das Märchen vom letzten Gedanken“ Inszenierung vom Ballhaus Naunynstraße

„Die vierzig Tage des Musa Dagh“ Inszenierung vom Maxim Gorki Theater

Ilija Trojanow

Ilija Trojanow

*23.08.1965
Olga Grjasnowa

Olga Grjasnowa

*14.11.1984
Nino Haratischwili

Nino Haratischwili

*08.06.1983
Saša Stanišić

Saša Stanišić

*07.03.1970
Melinda Nadj Abonji

Melinda Nadj Abonji

*22.06.1968
Nellja Veremej

Nellja Veremej

*26.12.1963

In den folgenden Beispielen haben AutorInnen auf sehr unterschiedliche Weise die Geschichte anderer Länder in das literarische Gedächtnis der deutschen Sprache getragen. Der Fokus auf den Aspekt der Öffnung der Nationalgeschichte wird dem vielfältigen Schaffen der Autoren nicht gerecht. Jeder von ihnen hätte mit einem anderen Text oder einer anderen Lesung, oder aber mit einem anderen Blick auf Text und Lesung in jedem anderen Raum dieses Hörparcours einen Platz gefunden. Und doch ist die Öffnung der Nationalgeschichte, d.h. die Generierung eines Verständnisses für historische Ereignisse in anderen Ländern als Teil deutscher Geschichte, ein zentraler, gleichzeitig selten benannter Bestandteil des Zusammenlebens. Vielleicht kann nur die Literatur den Spuren einer solchen Erzählung von Geschichte folgen. Den Autoren selbst ging es wohl kaum um diesen Aspekt: In Olga Grjasnowas „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ geht es mehr um sexuelles Begehren als um das postsowjetische Aserbaidschan. Saša Stanišić erklärt in der Lesung aus seinem ersten Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, wie er eine alterslose Kinderstimme entworfen hat, bei der auch die Beobachtungen eines Erwachsenen mitklingen. Ilija Trojanow testet mit seinem Roman „Macht und Widerstand“ die Grenzen des Romans aus: mit abgedruckten Originalakten der Staatssicherheit und mit der (wie im Gespräch mit Juli Zeh deutlich wird) Entbehrung von Identifikationsräumen. Nebst alledem ist die bulgarische Staatssicherheit auch eine deutsche Angelegenheit, wenn ein deutschsprachiger Autor in der Heimat seiner Eltern die literarische Begegnung mit diesem Regime sucht.

14.01.2015, LCB
Olga Grjasnowa und Nino Haratischwili in Lesung und Gespräch
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02.09.2015, LCB
Ilija Trojanow über seinen Roman „Macht und Widerstand“
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18.10.2010, LCB
Lesung aus „Tauben fliegen auf“
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15.11.2006, LCB
Lesung aus „Wie der Soldat das Grammofon repariert“
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01.03.2013, LCB
Lesung aus „Berlin liegt im Osten“
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Die Frage nach der Identität

Die Frage nach der Identität

„Das Schreiben von literarischen Texten in deutscher Sprache war kein exotisches Unterfangen, sondern ein natürlich gewachsener Prozess. Doch ich merkte sehr bald, dass dieses Natürliche und Selbstverständliche von meiner Umgebung nicht geteilt wurde. Meine deutsche Umgebung war zu stark mit meinem Türkischsein, meinem Anderssein beschäftigt.“ Das schreibt Zafer Şenocak in seinem Essayband „Deutschsein“, veröffentlicht 2011 im fünfzigsten Jubiläumsjahr des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens zur Rekrutierung von Arbeitern aus der Türkei. Er skizziert darin, unter anderem, die Beobachtung, dass die Debatten um Einwanderung und Integration in Deutschland anhand von Identitätsfragen geführt werden. Fragen des „Wie“ werden durch Bedingungen an ein „Wer“ verdrängt. Nicht „Wer ist der andere?“, sondern „Wer muss er sein?“. Das „Wer“ bezieht sich dabei auf die ethnische und religiöse Identität des anderen. Zafer Şenocak entgegnet: „Die ethnische und religiöse Identität eines Menschen kann nicht seine primäre und schon gar nicht seine einzige Identität sein.“ Nach dem Grund für diesen Versuch, die Identität des anderen zu bestimmen, sucht Şenocak als der Poet, der er ist, horchend. Er stößt dabei auf ein „gebrochenes Deutsch“: „Die Deutschen sprechen ein ‚gebrochenes Deutsch’, wenn sie über ihre Identität, über ihr Deutschsein sprechen. Dieses gebrochene Deutsch ist eine Sprache, die nicht weniger wichtig ist als die Alltagssprache, in der man kommuniziert. Denn sie lenkt die Alltagssprache, gerade wenn das Wort an andere gerichtet wird. Eine Sprache, die nicht frei von Schamgefühlen ist. Sie bleibt am liebsten im Verborgenen. Doch die Sprache, die formal und politisch korrekt erscheint, wirkt dadurch artifiziell und bemüht. Denn sie ist von ihrem Hintergrund abgeschnitten. Das Gedächtnis der Wörter macht die eigentliche Identität einer Sprache aus.“ Schritte hin zu einem Zusammenleben müssten nach Şenocak mehr hier ansetzen, als an der Öffnung von Bildung und Arbeitsmarkt. Also nicht mehr „wer muss der andere sein“, sondern „wer bin ich.“ Und die Suche nach dem Ich geht über die Sprache, über ein Hinhorchen, nicht zum politisch korrekten, wissenschaftlich-theoretischen Sprechen, sondern zu dem Gebrochenen dahinter. Die Entwurzelung der Sprache durch eine Verletzung ihrer emotionalen Kapazitäten. Eine Sprache, die nur noch ausnahmsweise in die beschädigte Innenwelt einkehren kann, bleibt den Liedern fern und verliert das Gedicht. Zafer Şenocak beschreibt seinen Weg zur deutschen Lyrik über türkische Gedichte vom mittelalterlichen Mystiker Yunus Emre hin zu den türkischen Dichtern der Moderne, wie Behçet Necatigil und Nâzım Hikmet, die ihn wiederum in den Futurismus Russlands führen, zu den Surrealisten und Symbolisten Frankreichs und schließlich zu spanischsprachigen Dichtern. Von dort aus findet er zu den deutschsprachigen Lyrikern der Vorkriegszeit, noch unbeschädigt oder anders beschädigt vom Nazideutsch, zu Rainer Maria Rilke und Stefan George. Und zu Ausnahmen im Nachkriegsdeutschland. Zu Paul Celan. Könnte nicht das, woran sich die Realpolitik Jahrzehnte lang die Zähne ausgebissen hat, stets mit Kompromissen, mit vielen Rückschlägen und einigen wenigen Fortschritten, die aber immer fragil blieben – so wird etwa bei jeder Gelegenheit die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft wieder entfacht – ; könnte all das nicht viel ehrlicher, wirksamer und letztlich heilend durch eine poetische Vertiefung angefühlt werden?

Paul Celan

Paul Celan

*23.11.1920, †20.04.1970

Bei Celan habe ich gelernt, unter anderem, dass niemandem seine Muttersprache in die Wiege gelegt wird, dass wir uns unsere eigene Muttersprache erschaffen müssen. Das ist keine Aussage von Celan, er hat das nie so gesagt, aber das ist eine der Erfahrungen, die ich machte, als ich wieder und wieder seine Gedichte las. Auch die Anfeindungen, die er erdulden musste, etwa 1952 in Niendorf an der Ostsee, wo er vor der Gruppe 47 las – mit „Singsang aus der Synagoge“ habe man seine Todesfuge kommentiert, so schreibt der Autor Gernot Wolfram in seinem Celan-Essay –, auch diese Anfeindungen zeigten mir, wie sehr die erschaffene Muttersprache gehütet und behütet werden muss. Aus dieser sprachlich radikalen Ehrlichkeit heraus (nicht in der Sprache selbst) müsste das neue gemeinsame Leben formuliert werden. Celan las 1969 in Jerusalem. Die Lesung ist im Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert.

09.10.1969, DLA
Lesung in Jerusalem
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Paul Celan in der Gruppe 47

Zafer Şenocak

Zafer Şenocak

*25.05.1961

Zafer Şenocak hatte zusammen mit Deniz Göktürk, heute Professorin für German Studies an der Berkeley Universität in den USA, viele Jahre die Literaturzeitschrift „Die Sirene“ herausgegeben. Mit dieser Zeitschrift hat er versucht, ein polyglottes und geöffnetes Deutschland literarisch einzufangen. Bei der Gründung des Kultur- und Gesellschaftsmagazins „freitext“ im Jahr 2003, mit ähnlichen Zielen wie zuvor Zafer Şenocak und Deniz Göktürk, wussten wir nichts von der „Sirene“. In gewisser Weise ist das ein Beispiel für die Brüchigkeit des „Archivs der Migration“. Was wir wissen und was wir nicht wissen, hat immer auch etwas mit unserer Zeit und unserem Ort zu tun. Manche Menschen sind dazu verdammt, immer Pioniere zu bleiben, weil ihre Geschichte ständig ausradiert wird. In seinem Buch „In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters“ schreibt Zafer Şenocak: „Wir Lesenden, Lernenden, Wissenden, wir denken, dass wir die Wörter prüfen, aber in Wirklichkeit prüfen sie uns. Werden wir, die verstehen, verstanden werden? Werden wir, die zweifeln, den Zweifel aushalten?“ 1988 war Zafer Şenocak Stipendiat im LCB. Er war 27 Jahre alt, seine Stimme war höher als heute. Nach einer Vorstellung durch Ulrich Janetzki las er Gedichte.

09.12.1988, LCB
Ulrich Janetzki über Zafer Şenocak
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09.12.1988, LCB
Lesung: Gedichte (I)
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09.12.1988, LCB
Lesung: Gedichte (II)
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Cover Freitext November 2013, Heft 22

Farhad Showghi

Farhad Showghi

*04.06.1961

Psychiater oder Dichter? Persisch oder Deutsch? Und wenn nicht „entweder – oder“, wirkt dann nicht wenigstens die Arbeit des Psychiaters auf die Sprache des Dichters? Nein, sagt Farhad Showghi. Bei ihm sind das verschiedene Identitäten, der Psychiater ist ein anderer als der Dichter. Showghi schreibt seit vielen Jahren Prosagedichte. Den Wechsel zwischen den Sprachen – im Alltag, nicht im Text – beschreibt er als produktive Verunsicherung. In seinem Band „In verbrachter Zeit“ schreibt er: „Ich war drauf und dran der Einfachheit halber eine Handbewegung zu machen. Fand zu einer Unsicherheit zurück.“

18.03.2004, LCB
Lesung und Gespräch mit Maike Albath
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Zehra Çırak

Zehra Çırak

*1960

Zehra Çırak, ihren ersten Gedichtband hat sie 1988 veröffentlicht, übersetzt manchmal aus Skulpturen in Sprache und beobachtet die Skulpturwerdung ihrer Worte. Zehra Çırak hat viel mit ihrem verstorbenen Mann zusammengearbeitet, der bildender Künstler war. Aus Materie in Wort – auch eine Form der Migration.

02.09.2004, LCB
Musikalische Lesung
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Jayrôme C. Robinet

Jayrôme C. Robinet

*1977

Jayrôme C. Robinet schreibt an den Grenzen des Lyrischen, Performativen und Dramatischen: Das Gedicht wird zum gesprochenen Wort, wird zu Wut, wird zu Prosa. Einen Auszug aus seinem Text „Das Licht ist weder gerecht noch ungerecht“ veröffentlichte er im Kultur- und Gesellschaftsmagazin „freitext“. Später arbeitete er den Text zu einem dramatischen Monolog um.
Der Text wirft Identitätsfragen auf, die nichts mit Kultur und Religion zu tun haben – oder doch, sehr viel, aber nicht das, was gemeinhin darunter verstanden wird: Hier geht es um die Spannungen einer geschlechtlichen Identität. Migration zwischen den Geschlechtern?

Franz Kafka

Franz Kafka

*03.07.1883, †03.06.1924

Franz Kafkas Mehrsprachigkeit hat sich nicht unmittelbar auf seine Prosa übertragen. Und doch ist Josef K.s Ringen um den Prozess auch ein Ringen um die Sprache. Bis zum Tag seines Todes an seinem einunddreißigsten Geburtstag bleibt K. der argumentativen Beweisführung verhaftet. Es gibt wenige Ausnahmen: Den Anruf Lenis in seinem Büro, nachdem er schon mit ihr abgeschlossen hatte – ihre Stimme kommt für ihn aus einer Welt, von der er sich bereits verabschiedet. Oder das Gespräch mit dem Geistlichen im „Türhüter“-Kapitel, wo K. für einen Augenblick Vertrauen fasst. Der Geistliche duzt K. sogar wie ein freundschaftlicher Lehrer. Erst am Ende des Prozesses, in seinen letzten Minuten ist K. fähig, seine Beweisführungen abzubrechen und seine Sprache öffnet sich – ihm selbst und auch dem Ende.
Aus der Ausstellung „Franz Kafka: Betrachtung“, die im April 2016 im LCB eröffnet wurde, hier drei Radierungen von Jan Peter Tripp zu den Betrachtungen von Kafka.

Kafka

Kafka: Zerstreutes Hinausschaun

Kafka: Der Ausflug ins Gebirge

José F. A. Oliver

José F. A. Oliver

*20.07.1961

José F. A. Oliver sagte einmal „J’aime couper les mots“ auf Französisch, weil ein algerischer Freund mit am Tisch saß. Sein Schreiben, immer verbunden mit anderen DichterInnen, mit Friederike Mayröcker und Elisabeth Borchers zum Beispiel, verzweigt sich ins Spanische, Allemanische und Celanische. In einer Zeit, in der viel Kälte in den Sätzen lag, hatte er einen Weg gefunden, die „emotionalen Kapazitäten der Sprache“ (Zafer Şenocak) zu aktivieren. Seine Gedichte aus Istanbul, die er während seiner Residenz in Tarabya verfasst hat, schneiden 2016, angesichts großer gesellschaftlicher Unruhen und einem Putschversuch in der Türkei, noch tiefer ins Herz. Er hätte es nicht gewollt, aber so ist er als poetischer Chronist aus Istanbul heimgekehrt. Wie sich seine Sprache für das Türkische geöffnet hat und wie er das polyphone Türkisch zurückgebracht hat in die deutsche Lyrik, lässt sich aus diesen Texten lesen.

20.04.2016, LCB
Lesung aus „21 Gedichte aus Istanbul“
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20.04.2016, LCB
Gespräch über die türkische Sprache
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Wächterin vergessener Biografien (aus „21 Gedichte aus Istanbul“, Matthes & Seitz Berlin)

Yoko Tawada

Yoko Tawada

*23.03.1960

Yoko Tawada gehört zu den wenigen wirklich bilingualen Autoren, die in mehreren Sprachen literarische Texte veröffentlichen – auch Zafer Şenocak gehört dazu. Sie schreibt Texte auf Deutsch und auf Japanisch. Es heißt, sie möchte nicht, dass ihre japanischen Texte ins Deutsche übersetzt werden – sie hätte sie ja sonst auf Deutsch geschrieben.

03.05.2000, DLA
Lesung: Gedichte
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Navid Kermani

Navid Kermani

*27.11.1967

Bei einer Lesung 2011 während des „Almanci – 50 Jahre Scheinehe-Festivals“ im Ballhaus Naunynstraße wurde Navid Kermani gefragt, wie er mit den verschiedenen Autorenrollen, die er innehabe, zurechtkomme: als Wissenschaftler, als Journalist, als Literat. Navid Kermani antwortete: „It’s all one song.“ In seinem umfangreichsten Roman „Dein Name“ gibt es verschiedene Navid Kermanis: den Autor, den Erzähler, den Berichterstatter, den Sohn, den Vater. Die Kermanis geraten in Spannung miteinander, aber sie kommen zusammen in einer multiplen Ich-Begegnung. Im August 2011 liest Navid Kermani im Studio LCB aus dem Roman.

25.08.2011, Studio LCB
Lesung aus „Dein Name“
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Dagmara Kraus

Dagmara Kraus

*10.03.1981

Als ich Dagmara Kraus das erste Mal lesen hörte, dachte ich, sie liest in einer fremden Sprache. Es war aber Deutsch. Vielleicht muss die Sprache aufgebrochen werden, damit sie frei ist von ihren Altlasten und einem Neuanfang, also einer ehrlichen Begegnung, nicht im Weg steht – wenigstens einer poetischen Begegnung.

09.07.2008, LCB
Lyrik-Lesung
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Max Frisch

Max Frisch

*15.05.1911, †04.04.1991

Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was Leser, Zuhörer oder Diskussionsteilnehmer bei Lesungen mit „Identität“ meinten. Für mich war die Frage nach Identität immer – und das ist sie heute noch – viel stärker mit Max Frisch verbunden als mit Debatten um Einwanderung. Wenn das Thema der Identität für die (aus meiner Sicht nicht-existente) „Migrationsliteratur“ zentral ist, dann ist Max Frisch sicher einer der wichtigsten Vertreter dieser Literatur. Wie wahr kann der Satz „Ich bin nicht Stiller“ sein? Und was ist die Konsequenz eines gescheiterten Selbstentwurfs? Diese Fragen haben sich die Figuren von Max Frisch schon in seinem Frühwerk gestellt. Wie Jürg Reinhart, der Maler, der zum Gärtner Anton wird – nicht ganz, denn er kann weder ein „Gestalter“ sein, der ohne Sicherheiten entfesselt und frei ist, noch ein „Gesunder“, der sich für die Ehe entscheidet und das Leben weitergibt. Er hat das Leben „versehrt“ empfangen und muss sich selbst „auslöschen“, so wie auch Walter Faber später feststellt, dass es nicht hilft, das Leben zu beenden, er dürfte nie gewesen sein. Diese Identitätsfragen können auch mit dem Wechsel von Ländern verbunden werden – auch Stiller war ein Migrant und Walter Faber reist mit fast allen Möglichkeiten der Fortbewegung um die Welt.
In diesem Ausschnitt seiner Lesung im LCB von 1987 erzählt Max Frisch, wie er nach der tagebuchartigen Erzählweise von „Homo Faber“, „Stiller“ und „Mein Name sei Gantenbein“ zu der Form der Montage seiner letzten Werke „Blaubart“ und „Der Mensch erscheint im Holozän“ gekommen ist, auf der Suche nach einer Darstellung der spezifischen Einsamkeit des Menschen.

30.06.1987, LCB
Max Frisch im Gespräch mit Walter Höllerer
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„Modefotografie (Ohne Titel)“

Deniz Utlu
Deniz Utlu wurde 1983 in Hannover geboren und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Sein erster Roman „Die Ungehaltenen“ erschien 2014 im Graf Verlag. Neben dem Roman hat er Essays, Lyrik und Theaterstücke verfasst. Für seine Texte erhielt er Preise und Stipendien, unter anderem: Teilnahme an der Autorenwerkstatt des LCB, Arbeitsstipendium Berliner Senat, Aufenthaltsstipendien in Eisenbach, Schöppingen und Istanbul, Förderpreis der Schülerjury beim Kranichsteiner Literaturpreis. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin „freitext“ heraus. Im Maxim Gorki Theater veranstaltet er die Literaturreihe „Prosa der Verhältnisse“.

Über das Projekt
Seit Oktober 2015 ist das digitale Tonarchiv „Dichterlesen.net“ online – ein Portal, auf dem das LCB in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Literaturhaus Basel historische und aktuelle Veranstaltungsmitschnitte zum Nachhören präsentiert und in virtuellen Themenräumen Einblick in die Vielfalt der verfügbaren Audio-Materialien gibt. In diesem Hörraum „Unterhaltungen deutscher Eingewanderten“ gehen die beiden Autoren Marica Bodrožić und Deniz Utlu der Frage nach, wie sich Erfahrungen von Migration und Flucht in der deutschen Literatur widerspiegeln. Beide Autoren haben die Tonarchive in Berlin, Marbach und Basel gesichtet und auf Grundlage unzähliger Stimmen z.B. von Paul Celan, Ruth Klüger, Hilde Domin oder Elias Canetti einen jeweils eigenen audiovisuellen Onlineparcours kreiert. Sie reflektieren in diesen, ob eine sogenannte „Migrationsliteratur“ überhaupt existiert und hinterfragen Sprachbilder wie „Heimat“, „Muttersprache“ oder „Identität“.

Dichterlesen.net

Ein Projekt von
Dichterlesen.net ist eine Initiative des Literarischen Colloquiums Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Literaturhaus Basel. Das Portal und der Hörraum „Unterhaltungen deutscher Eingewanderten“ wurden gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.