Wie viel moralischen und politischen Kredit hat die Literatur zu vergeben?
27. April 2011
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Norbert Lammert und Herta Müller im Gespräch
Begrüßung: Manfred Erhardt
Moderation: Sigrid Löffler, Jan Bürger
Programmtext
Wo verläuft die Grenze zwischen Kunst und Politik? Kann die Literatur überhaupt einen politischen Beitrag leisten oder überfordert sie sich damit? Bundestagspräsident Norbert Lammert bittet die Nobelpreisträgerin Herta Müller zu einem kleinen Marbacher Gipfeltreffen.
Weiterführende Informationen
Manfred Erhardt, damaliger Präsident der Deutschen Schillergesellschaft, stellt einführend das von ihm so bezeichnete „Marbacher Literarische Quartett“ vor. Im anschließenden Gespräch mit dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, das von Sigrid Löffler und Jan Bürger moderiert wird, sollen die Grenzen zwischen Kunst und Politik vermessen werden. Es geht dabei u. a. um folgende Fragen: Was soll oder kann die Kunst, wenn sie mit der Politik in Berührung kommt? Und welchem Risiko setzt sie sich damit aus? Inwiefern können Künstler bzw. Schriftsteller Einfluss auf politische Prozesse nehmen? Welche Rolle spielt die Politik (z. B. mit dem mächtigen Instrument der Zensur) für künstlerisch-literarische Verfahren (wie z. B. die Allegorie)? Ist politisches Engagement überhaupt mit einer autonomen Literatur vereinbar? Wie stark lässt sich die Kunst instrumentalisieren? Und wo ist da die Grenze? Macht sich ein Schriftsteller angreifbar, wenn er in politisierender Funktion auftritt? Welche Rolle kann ein Intellektueller in einer freien Gesellschaft einnehmen und welche in einer Diktatur? Ist es nicht vielleicht doch die eigentliche Aufgabe von Autoren, sich insbesondere von der Tagespolitik fernzuhalten und sich ganz auf das eigene literarische Werk zu konzentrieren?
Sigrid Löffler verweist anfangs auf zwei damals aktuelle Musterbeispiele des Zusammenstoßes zwischen Kunst und Politik: auf den Libyen-Komplex und auf den Komplex Peking mit der umstrittenen Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ und der Verhaftung des regimekritischen Künstlers Ai Weiwei. Beide Exempla würden die Macht und Ohnmacht von engagierten Künstlern und Intellektuellen repräsentieren. Die deutsche Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ sei offenbar mit dem Hintergedanken geplant worden, die sich im Umbruch befindende chinesische Gesellschaft vielleicht doch mit dem Gedanken der westlichen Aufklärung und der Menschenrechte vertraut zu machen. Kaum war die feierliche Ausstellungseröffnung am 1. April 2011 jedoch vorbei, intensivierte die chinesische Regierung ihr Vorgehen gegen chinesische Intellektuelle. In der Folge wurden Journalisten, Menschenrechtsanwälte, Künstler und Schriftsteller verschleppt, eingesperrt und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Norbert Lammert spricht in diesem Zusammenhang von einer „Konterkarierung des Zwecks der Ausstellung“ und sieht durchaus in der Planung der Initiatoren „eine Mischung aus Anmaßung und Naivität“. Herta Müller übt scharfe Kritik an der Ausstellung im Pekinger Chinesischen Nationalmuseum und an der deutschen Kulturpolitik und betont, dass alles, was dort auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschehe, eigentlich überhaupt nicht dem entspreche, was wir uns in Europa unter einer zivilen Gesellschaft vorstellen würden, wo das Individuum eine Rolle spiele und Rechte habe.